🐾 Teil 5: Die Einladung
Der August brachte ein anderes Licht über die Stadt.
Es war weicher, weniger grell als im Hochsommer, und in den frühen Morgenstunden lag schon ein Hauch von Herbst in der Luft.
Anton hatte das Gefühl, als würde sich auch in ihm etwas verändern.
Die Zeit des Übens war vorbei.
Er wusste es, auch wenn er es sich selbst noch nicht laut gesagt hatte.
Eines Morgens stand Frau Kienle vor seiner Tür.
Sie trug wie immer ihren dunkelblauen Leinenrock und den breiten Strohhut, den sie selbst im Schatten nicht abnahm.
Anton bat sie herein, und Rumo kam sofort, um an ihrem Rocksaum zu schnuppern.
„Ich habe eine Bitte“, begann sie, während sie ihre Tasche auf dem Küchentisch abstellte.
„Der Kirchenchor feiert im September sein Jubiläum. Wir wollten etwas Besonderes machen… und da habe ich an Sie gedacht.“
Anton runzelte die Stirn.
„Ich kann nicht mehr hören, Sie wissen das.“
„Ja“, sagte sie sanft.
„Aber ich weiß auch, dass Sie trotzdem spielen. Und dass Ihr Hund für Sie hört. Ich habe gesehen, wie Sie beide im Saal arbeiten.“
Sie lächelte.
„Es muss ja nicht vor großem Publikum sein. Vielleicht nur ein paar Stücke, ein kurzer Auftritt. Ich glaube, die Leute würden es verstehen.“
Anton schwieg lange.
Er dachte an die Jahre, in denen er Auftritte vorbereitet hatte, an das Zittern der Schüler vor dem ersten Ton, an das stolze Lächeln nach dem Applaus.
Und er dachte daran, wie es wäre, nun selbst auf dieser Bühne zu sitzen, wissend, dass er keinen einzigen Ton hören würde.
„Ich… ich muss nachdenken“, sagte er schließlich.
Als Frau Kienle gegangen war, setzte er sich ins Wohnzimmer.
Rumo kam und legte den Kopf auf seine Knie.
„Was meinst du, mein Junge?“, fragte Anton.
Der Hund hob nur leicht die Augen, als hätte er verstanden, dass es nicht seine Entscheidung war.
In den nächsten Tagen wich der Gedanke nicht von ihm.
Klara kam wie gewohnt zum Üben, und Anton erzählte ihr von der Einladung.
Ihre Augen wurden groß.
„Das müssen wir machen!“, rief sie.
„Es ist doch genau das, wofür wir geübt haben.“
„Aber was, wenn es schiefgeht?“, fragte Anton.
„Was, wenn ich den Faden verliere? Ich kann nicht hören, ob etwas falsch klingt.“
Klara schüttelte den Kopf.
„Rumo wird es merken. Und ich auch. Wir lassen Sie nicht allein.“
Ihre Zuversicht war ansteckend.
Noch am selben Abend nahm Anton wieder das Notenheft zur Hand.
Sie begannen, zwei Stücke auszuwählen, eines langsam und getragen, das andere lebendiger, fast heiter.
Es sollte nicht zu lang sein, aber genug, um die Verbindung zwischen ihnen zu zeigen.
Die Proben wurden intensiver.
Im Gemeindesaal standen jetzt nicht mehr nur Anton und Rumo, sondern auch Klara mit der Geige und manchmal Frau Kienle, die leise den Takt mitbewegte.
Anton spielte nicht für den Klang, sondern für die Bewegung, die er in seinen Fingern spürte, für den Blick von Rumo, der ihm sagte, ob er hoch oder tief, schnell oder langsam war.
Einmal, als sie eine Passage wiederholten, die besonders heikel war, sprang Rumo plötzlich auf und ging ein paar Schritte nach vorn.
Anton verstand sofort, er hatte den Einsatz verpasst.
Er korrigierte sich, und Rumo legte sich wieder hin, als wäre nichts gewesen.
Klara lachte.
„Er ist strenger als jeder Dirigent.“
Mit jedem Tag wuchs in Anton die Gewissheit, dass sie es wagen konnten.
Doch eine leise Unruhe blieb.
Er wusste, dass dies vielleicht sein letzter Auftritt sein würde.
Nicht, weil er alt war, obwohl er es war, sondern weil es nichts mehr zu beweisen gab.
Alles, was zählte, war, diesen Moment zu teilen, mit Rumo, mit Klara, mit den wenigen, die verstehen würden.
Zwei Wochen vor dem Jubiläum kam ein Brief von der Kirchengemeinde.
Kein offizielles Schreiben, eher eine liebevolle Einladung, handgeschrieben, mit einer kleinen Zeichnung von Noten am Rand.
Anton legte den Brief auf den Klaviertisch.
Es war wie ein Punkt, hinter den er nicht mehr zurück konnte.
Die Tage bis zum Auftritt füllten sich mit Proben, aber auch mit kleinen Pausen, in denen sie einfach im Saal saßen und das Licht beobachteten.
Anton mochte besonders die späten Nachmittage, wenn die Sonne durch die hohen Fenster fiel und der Staub in den Strahlen schwebte.
Es war, als würde der Raum selbst atmen.
Am letzten Probentag blieb Anton länger als sonst.
Klara war schon nach Hause gegangen, und er saß allein auf der Bühne.
Rumo lag auf dem Holz, den Kopf auf den Pfoten, und beobachtete ihn.
Anton spielte ein paar Töne, ohne darüber nachzudenken.
Es war kein Stück, keine Melodie, nur eine Reihe von Klängen, die er nicht hören konnte.
Doch Rumo hob den Kopf, und für einen Augenblick hatte Anton das Gefühl, als würde der Hund den Klang sehen und ihm zeigen.
Auf dem Heimweg spürte er keine Angst mehr.
Nur Vorfreude.
Der Sommer war fast vorbei, und der letzte Klang rückte näher.
Manchmal ist der Mut nicht das laute Auftreten, sondern das stille Annehmen.