Der letzte Klang | Er hörte keinen Ton mehr, bis sein Hund begann, die Musik für ihn zu sehen

🐾 Teil 6: Der Abend vor dem Auftritt

Der September kam mit klarer Luft und kühlen Nächten.
Die ersten Blätter färbten sich, und die Sonne stand tiefer, als wollte sie länger im Fenster verweilen.
Anton spürte, wie sich der Tag des Jubiläums unausweichlich näherte.
Jede Probe, jede kleine Korrektur brachte ihn einen Schritt weiter und ließ zugleich die Nervosität wachsen.

Am Tag vor dem Auftritt saß er schon früh in der Küche.
Der Kaffee dampfte in der Tasse, und durch das leicht geöffnete Fenster zog der Geruch von feuchtem Holz herein.
Rumo lag wie immer in Reichweite seiner Füße.
Anton strich mit der Hand über das raue Fell, suchte nach Ruhe in der gleichmäßigen Wärme des Hundes.

Klara kam am späten Vormittag.
Sie trug einen schlichten grauen Pullover, die Geige auf dem Rücken.
„Letzte Probe?“, fragte sie.
Anton nickte, nahm den Schlüssel zum Gemeindesaal, und gemeinsam gingen sie durch die herbstlich gefärbte Allee.
Die Kastanien warfen schon die ersten stacheligen Früchte ab, und bei jedem Schritt raschelten trockene Blätter.

Der Saal lag still da, als hätte er auf sie gewartet.
Das Licht fiel warm durch die Fenster, und der Flügel glänzte schwach im Dämmerlicht.
Sie begannen mit dem langsamen Stück, so wie sie es am nächsten Tag spielen würden.
Anton konzentrierte sich auf den Rhythmus seiner Finger, auf den Blick von Rumo, der jede Bewegung aufnahm.
Er fühlte, wie sich das Stück wie eine vertraute Geschichte entfaltete – eine Geschichte, die nur sie drei kannten.

Nach dem letzten Ton blieben sie still sitzen.
Klara lächelte, doch Anton sah auch, dass ihre Hände leicht zitterten.
„Morgen wird es gut“, sagte sie.
„Weil es nicht darum geht, perfekt zu sein.“
Er nickte.
Sie wussten beide, dass der Auftritt nicht in erster Linie für die Zuhörer war, sondern für das, was zwischen ihnen entstanden war.

Am Nachmittag gingen sie auseinander.
Anton wollte den Abend allein verbringen, um die Gedanken zu ordnen.
Er ging noch einmal durch den kleinen Park am Mühlbach.
Das Wasser glitt ruhig dahin, ein paar Enten zogen breite Bahnen über die Oberfläche.
Er erinnerte sich daran, wie er hier früher mit seinen Schülern nach den Proben spaziert war, manchmal im Regen, manchmal im Abendlicht.

Zu Hause stellte er das Notenheft auf das Klavier, so wie es am nächsten Tag liegen würde.
Er öffnete es, strich über die Seiten.
Nicht, um noch einmal zu üben, sondern um den Blick zu verankern.
Rumo setzte sich neben ihn, die Augen wach, als wüsste er, dass morgen ein besonderer Tag war.

Die Nacht kam früh.
Anton aß nur wenig, trank einen Kamillentee und setzte sich ans Fenster.
Draußen glühten die Straßenlaternen, und in der Ferne blinkte das rote Licht des Kirchturms.
Er fragte sich, ob er nach all den Jahren in der Lage war, noch einmal einen Auftritt so zu erleben wie früher.
Vielleicht würde er nichts hören, aber er würde sehen und fühlen.

Später, als er ins Bett ging, blieb Rumo dicht an seiner Seite liegen.
Anton legte eine Hand auf den Hund, spürte den ruhigen Atem.
Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie am nächsten Tag im Saal sitzen würden: er am Flügel, Klara mit der Geige, Rumo zwischen ihnen.
Kein Publikum, das auf jede Note achtete, sondern Menschen, die den Augenblick teilen wollten.

Kurz bevor er einschlief, dachte er an etwas, das er einmal einem Schüler gesagt hatte.
„Musik ist das, was bleibt, wenn der letzte Ton verklungen ist.“
Damals hatte er es nicht so gemeint wie heute.
Jetzt wusste er, dass Stille auch ein Teil von Musik sein konnte, vielleicht sogar der schönste.

Der Morgen würde bald kommen.
Und mit ihm der letzte Klang.

Manche Bühnen bereitet man ein Leben lang vor, ohne es zu wissen.

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