Der letzte Klang | Er hörte keinen Ton mehr, bis sein Hund begann, die Musik für ihn zu sehen

🐾 Teil 7: Das Jubiläum

Der Morgen des Jubiläums begann mit einem blassen Himmel.
Ein dünner Nebel lag über den Gärten, und das Gras war feucht vom Tau.
Anton stand früh auf, obwohl er kaum geschlafen hatte.
Er kochte sich Kaffee, nicht weil er den Geschmack besonders brauchte, sondern weil das warme Porzellan in seinen Händen beruhigend war.

Rumo folgte ihm durch das Haus.
Der Hund wirkte wach und gespannt, als wüsste er, dass heute kein gewöhnlicher Tag war.
Anton strich ihm über den Rücken, nahm dann den Mantel vom Haken und sah noch einmal prüfend zum Notenheft auf dem Klavier.
Die Seiten waren leicht gewellt vom vielen Umblättern, und auf einer Ecke klebte ein winziger Fleck vom Morgenkaffee vor zwei Wochen.

Gegen zehn Uhr kam Klara.
Sie trug ein schlichtes weißes Kleid, das unter dem dunklen Mantel hervorblitzte.
Ihre Geige trug sie in einer Hand, mit der anderen streichelte sie Rumo zur Begrüßung.
„Bereit?“, fragte sie.
Anton nickte, auch wenn er den Knoten in seiner Brust spürte.

Der Weg zum Gemeindesaal war kurz, doch heute kam er Anton länger vor.
Die Straßen waren still, nur hin und wieder zog der Wind ein paar Blätter über das Pflaster.
Vor dem Saal standen einige Menschen, die sich leise unterhielten.
Anton erkannte ein paar bekannte Gesichter, Nachbarn, ehemalige Schüler, und nickte ihnen zu.

Drinnen roch es nach frisch geputztem Holz und Kerzenwachs.
Der Saal war schlicht geschmückt, ein paar Blumengestecke, weiße Tücher auf den Fensterbänken.
Auf der Bühne stand der Flügel, frisch abgestaubt, daneben ein Stuhl für Klara.
Rumo lief einmal über die Bühne, schnupperte am Instrument und legte sich dann auf den Platz, den Anton für ihn vorgesehen hatte.

Der Chor begann mit zwei Stücken, die Anton nicht hörte, aber im Bewegungsmuster der Sänger sehen konnte.
Er ließ die Augen auf den Händen der Chorleiterin ruhen, die den Takt führte.
So hatte er früher selbst gestanden, aufmerksam und fest, bereit, jeden Einsatz zu geben.

Dann kam ihre Reihe.
Frau Kienle kündigte sie an, und auch wenn Anton die Worte nicht hörte, las er den Ausdruck in den Gesichtern im Publikum Neugier, aber auch eine leise Rührung.
Er setzte sich an den Flügel, Klara stellte sich neben ihn, und Rumo legte sich zwischen sie.

Der erste Akkord war für ihn nur eine Bewegung in den Fingern, aber für Rumo offenbar ein klarer Ruf.
Der Hund hob den Kopf, die Ohren spitz, und Anton fühlte, wie sich in ihm eine Ruhe ausbreitete.
Klara spielte ihre ersten Töne, und er konnte sehen, wie sie im Takt leicht mit dem Fuß wippte.
Rumo folgte jeder Wendung, hob den Kopf bei den hohen Passagen, senkte ihn bei den tiefen.

Das Stück floss, als hätten sie es ihr Leben lang gemeinsam gespielt.
Anton sah nicht ins Publikum, er brauchte es nicht.
Alles, was zählte, war hier unter seinen Händen, in Klaras Bogenstrichen, in Rumos stillen Bewegungen.
Er spürte den Rhythmus im Körper, als würde er ihn nicht hören, sondern direkt fühlen.

Beim zweiten Stück, dem lebendigeren, passierte etwas, das ihn überraschte.
Als sie in die schnellere Passage gingen, sprang Rumo kurz auf, machte einen kleinen Schritt zur Seite und blickte Anton direkt an, als wollte er ihn vorantreiben.
Das Publikum lachte leise, und Anton lächelte zurück, ohne den Takt zu verlieren.
Dieser kleine Moment war wie ein Versprechen zwischen ihnen, dass sie es gemeinsam bis zum letzten Ton schaffen würden.

Als der letzte Akkord verklang, blieb es für einen Atemzug still.
Dann kam der Applaus.
Anton spürte ihn eher, als dass er ihn wahrnahm, das Vibrieren des Bodens, die Bewegung der Menschen, das Licht, das sich leicht veränderte, als sich die Körper im Saal bewegten.
Er stand auf, verneigte sich kurz, und Rumo blieb an seiner Seite.
Klara lächelte breit, und er legte ihr im Vorbeigehen kurz die Hand auf die Schulter.

Nach dem Auftritt kamen einige Besucher zu ihm, sprachen langsam und deutlich, damit er die Worte von den Lippen lesen konnte.
Sie sagten, es sei etwas Besonderes gewesen, nicht nur wegen der Musik, sondern wegen der Art, wie sie alle drei verbunden waren.
Anton nickte nur und dankte, aber innerlich wusste er, dass diese Verbindung nicht für andere gedacht gewesen war.
Sie gehörte ihnen allein.

Später, als der Saal sich leerte, blieb er noch einen Moment auf der Bühne sitzen.
Er strich mit der Hand über den geschlossenen Deckel des Flügels und sah in das goldene Licht, das durch die Fenster fiel.
Rumo legte den Kopf auf seine Knie, und Anton wusste, dass sie heute etwas abgeschlossen hatten.

Auf dem Heimweg gingen sie langsam, fast schweigend.
Klara lief ein Stück voran, Rumo in der Mitte.
Anton spürte keinen Druck mehr, keine Nervosität, nur eine tiefe, stille Zufriedenheit.
Vielleicht würde er nie wieder öffentlich spielen.
Aber das war nicht wichtig.

An diesem Abend, als er zu Hause das Licht löschte, hörte er in seiner Erinnerung etwas, das kein Geräusch war.
Es war ein Gefühl, so nah wie früher die Musik, der letzte Klang, der noch in der Stille schwebte.

Manche Melodien leben weiter, auch wenn niemand sie mehr hört.

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