Der letzte Klang | Er hörte keinen Ton mehr, bis sein Hund begann, die Musik für ihn zu sehen

🐾 Teil 8: Die Stille danach

Der Tag nach dem Jubiläum begann ohne Eile.
Die Sonne schien milchig durch den leichten Nebel, der noch zwischen den Dächern hing.
Anton stand spät auf, trank seinen Kaffee und blickte lange in den Garten, wo die ersten gelben Blätter auf dem Rasen lagen.
Es war eine andere Ruhe als sonst, nicht die bedrückende Stille, die ihn seit Monaten begleitete, sondern eine, die sich wie ein Ausatmen anfühlte.

Rumo lag unter dem Küchentisch, schien ebenso zufrieden wie müde.
Der Hund hatte gestern so aufmerksam gearbeitet wie noch nie.
Anton erinnerte sich an jeden Blick, jede kleine Bewegung, mit der er den Rhythmus gehalten hatte.
Er dachte auch an den Moment, als Rumo während des zweiten Stücks aufgesprungen war.
Das war keine spontane Laune gewesen.
Es war, als hätte der Hund genau gewusst, dass Anton in diesem Augenblick seinen Schub brauchte.

Gegen Mittag kam Klara vorbei.
Sie trug keinen Mantel, die Sonne wärmte wieder ein wenig, und ihr Haar fiel locker über die Schultern.
„Ich habe heute frei“, sagte sie, als er ihr die Tür öffnete.
„Ich wollte einfach sehen, wie es dir geht.“

Sie setzten sich ins Wohnzimmer, und Klara legte ihre Geige auf den Tisch, ohne sie auszupacken.
„Es war gestern schön“, sagte sie nach einer Weile.
„Nicht nur für die Leute, die da waren. Auch für uns.“
Anton nickte.
Er brauchte nicht viele Worte, um zu zeigen, dass er genauso empfand.

Sie sprachen noch eine Weile über den Auftritt, dann über andere Dinge – das Wetter, den beginnenden Herbst, Klaras Schule.
Rumo lag zwischen ihnen und schlief ein, den Kopf auf den Pfoten.
Es war eine unscheinbare Szene, aber Anton merkte, dass sie ihm genauso viel bedeutete wie der Tag zuvor.

Am Abend, als Klara gegangen war, ging Anton in den kleinen Hinterhof.
Der Himmel war klar, und über dem Kirchturm stand der erste Stern.
Er dachte an seine Zeit als Lehrer zurück, an all die Kinder, denen er Musik beigebracht hatte.
Damals hatte er geglaubt, seine Arbeit sei vorbei, wenn die Noten verklungen waren.
Jetzt wusste er, dass die Musik in den Menschen weiterging, manchmal leiser, manchmal in einer Form, die man nicht hören konnte.

In den folgenden Tagen fiel Anton in eine sanfte Routine.
Er spielte nicht jeden Tag, aber oft.
Manchmal nur ein paar Takte, manchmal ganze Stücke.
Rumo war immer dabei, aufmerksam wie ein Schüler in der ersten Reihe.
Es war nicht mehr das disziplinierte Üben für einen Auftritt, sondern ein stilles Gespräch zwischen ihnen.

Eines Nachmittags, als ein kühler Wind durchs offene Fenster strich, holte Anton seine Geige.
Er spielte nicht mehr so sicher wie früher, aber das war ihm egal.
Rumo setzte sich vor ihn, der Kopf leicht schräg, und folgte jeder Bewegung des Bogens.
Manchmal hatte Anton das Gefühl, der Hund verstand mehr von Musik, als man erklären konnte.

An einem Sonntag ging Anton allein in den Gemeindesaal.
Er wollte sehen, wie der Raum ohne Menschen war, nur mit dem Licht und den Gerüchen, die er kannte.
Der Flügel stand noch auf der Bühne, als hätte er auf ihn gewartet.
Anton setzte sich, legte die Hände auf die Tasten, spielte aber nicht.
Er ließ den Blick durch den leeren Raum wandern und erinnerte sich an den Applaus vom Jubiläum.
Nicht an den Klang, sondern an das Gefühl, als alle aufgestanden waren.

Auf dem Heimweg blieb er an der Brücke über den Mühlbach stehen.
Das Wasser floss träge, ein paar Blätter trieben darauf.
Anton dachte daran, wie vergänglich Musik war und wie sehr sie trotzdem blieb.
Vielleicht war es genau wie mit dem Bach.
Man konnte nie denselben Tropfen zweimal sehen, und doch war es immer derselbe Fluss.

Zu Hause wartete Rumo am Tor, wedelte und drückte die Schnauze gegen Antons Hand.
„Wir haben’s gut, mein Junge“, sagte Anton leise.
„Kein Publikum, keine Termine, nur wir.“

In dieser Nacht träumte er von einer Bühne, auf der kein Licht brannte.
Nur er und Rumo standen dort, und irgendwo in der Dunkelheit spielte jemand eine leise Melodie.
Er konnte sie nicht hören, aber er fühlte sie in den Fingern.

Als er aufwachte, wusste er, dass er nichts mehr beweisen musste.
Der letzte Klang war nicht nur der Moment im Saal gewesen, er war überall dort, wo er mit Rumo zusammen war.

Manchmal beginnt die schönste Musik, wenn der Applaus längst verhallt ist.

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