🐾 Teil 9: Der Herbstweg
Der Oktober kam still, mit Nebel, der morgens wie eine Decke über den Feldern lag.
Die Farben wurden tiefer, das Licht sanfter, und Anton begann seine Spaziergänge auszudehnen.
Rumo ging immer an seiner Seite, manchmal ein paar Schritte voraus, als wolle er den Weg prüfen.
An einem dieser Tage führte sie der Weg weiter hinaus als sonst.
Anton hatte keinen festen Plan, nur das Bedürfnis, zu gehen.
Der Boden war von feuchtem Laub bedeckt, und unter den Schuhen knisterten die Blätter leise – ein Geräusch, das er nicht mehr hörte, aber in den Schritten spürte.
Am Waldrand hielten sie an.
Der Nebel löste sich langsam, und die Sonne brach in dünnen Strahlen durch die Bäume.
Rumo blieb plötzlich stehen, stellte die Ohren auf und blickte nach rechts.
Anton folgte dem Blick und sah eine kleine Kapelle zwischen den Bäumen.
Er war diesen Weg seit Jahren nicht mehr gegangen und hatte fast vergessen, dass es sie gab.
Die Tür stand halb offen, und der Geruch von kaltem Stein wehte heraus.
Sie traten ein.
Drinnen war es kühl, die Bänke staubig, und auf dem Altar lag ein einfaches Holzkreuz.
Neben der ersten Bank stand ein altes Harmonium.
Anton legte die Hand auf die Tasten, die unter seinen Fingern rau und kalt waren.
Er spielte nicht, sondern stellte sich nur vor, wie der Klang den Raum füllen würde.
Rumo stand neben ihm, aufmerksam, als würde er jeden unsichtbaren Ton verfolgen.
Auf dem Heimweg dachte Anton an frühere Zeiten, als er mit Schülern hierhergekommen war, um für ein Adventskonzert zu proben.
Damals war er jung, voller Pläne, und die Musik war ein selbstverständlicher Teil seines Tages gewesen.
Jetzt war sie etwas Kostbares, das er bewusst festhielt.
In den folgenden Wochen gingen sie öfter zur Kapelle.
Anton begann, kurze Stücke auf dem Harmonium zu spielen.
Er hörte sie nicht, aber er sah an Rumos Haltung, wann die Töne wechselten.
Manchmal stand der Hund reglos, manchmal bewegte er sich leicht im Takt.
Es war ein stiller Dialog, der nur zwischen ihnen funktionierte.
Eines Nachmittags, als der Himmel schon früh dämmerte, kam Klara dazu.
Sie hatte ihre Geige dabei und stellte sich neben das Harmonium.
Gemeinsam spielten sie ein altes Volkslied, das Anton gut kannte.
Der kleine Raum füllte sich mit Bewegung, nicht in seinen Ohren, sondern in den Blicken und Gesten, die zwischen ihnen flossen.
Nach dem letzten Ton blieb Klara noch stehen, die Hände locker an der Geige.
„Hier klingt es anders“, sagte sie.
Anton nickte.
Er konnte den Klang nicht vergleichen, aber er verstand, was sie meinte.
Der Raum hatte eine eigene Art, Musik zu halten, so wie er auch die Stille hielt.
Als sie später nach Hause gingen, fiel Anton auf, dass er sich auf diesen Herbst gefreut hatte, ohne es zu merken.
Nicht wegen des Wetters oder der Farben, sondern weil er gelernt hatte, Musik anders zu erleben.
Die Klänge, die er nicht mehr hörte, waren trotzdem da in Rumos Bewegungen, in Klaras Gesicht, in der Erinnerung an das, was einmal selbstverständlich gewesen war.
An einem windigen Tag, als die Blätter wie Funken durch die Luft tanzten, setzte Anton sich zu Hause ans Klavier.
Er spielte nicht für eine Probe, nicht für einen Auftritt, sondern einfach, um bei Rumo zu sein.
Der Hund reagierte wie immer aufmerksam, genau, sicher.
Und Anton wusste, dass es egal war, ob jemand anders diese Musik je hören würde.
An diesem Abend, als der Wind am Fenster rüttelte, schrieb er ein paar Zeilen in ein Notizbuch.
Es waren keine Noten, sondern Worte:
„Der letzte Klang ist nicht der, der im Ohr bleibt, sondern der, der im Herzen nachklingt.“
Er wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis diese Geschichte zu Ende ging.
Doch noch war es nicht so weit.
Manche Wege führen nicht fort, sie bringen dich nach Hause.