Der letzte Klang | Er hörte keinen Ton mehr, bis sein Hund begann, die Musik für ihn zu sehen

🐾 Teil 10: Der letzte Klang

Der November kam mit kurzen Tagen und langen Nächten.
Am Morgen hing oft Reif auf den Dächern, und der Atem stand wie Nebel in der Luft.
Anton spürte die Kälte in den Gelenken, doch er ließ sich davon nicht abhalten.
Er und Rumo gingen weiterhin ihre Wege, mal zum Mühlbach, mal zur Kapelle, manchmal einfach ohne Ziel.

An einem besonders klaren Morgen blieb Anton im Garten stehen.
Die Luft war so still, dass selbst die kleinste Bewegung auffiel, das Zucken eines Zweigs, das Zittern eines Blatts im Frost.
Rumo stand neben ihm, den Blick fest auf ihn gerichtet.
Es war, als wüsste der Hund, dass dieser Tag anders war.

Anton ging ins Haus, setzte sich an das Klavier und öffnete das alte Notenheft.
Die Seiten waren mittlerweile an den Kanten weich, manche trugen kleine Fingerabdrücke von früheren Stunden.
Er strich langsam darüber, als würde er sich verabschieden.

Gegen Mittag kam Klara.
Sie trug einen dicken Schal und hatte die Geige im Arm.
„Ich habe heute Zeit“, sagte sie.
„Vielleicht können wir noch einmal zusammen spielen.“
Anton nickte und spürte dabei eine Mischung aus Freude und Wehmut.

Sie gingen zum Gemeindesaal.
Die Luft war kühl, der Saal still, als hätte er sich in den letzten Wochen in den Winterschlaf gelegt.
Anton setzte sich an den Flügel, Klara stellte sich mit der Geige neben ihn, und Rumo legte sich auf seinen Platz zwischen ihnen.

Sie spielten das langsame Stück, das ihnen seit Monaten vertraut war.
Anton achtete nicht auf den Ablauf, sondern auf die kleinen Dinge, wie Klara den Bogen hielt, wie Rumo bei bestimmten Passagen den Kopf hob, wie das Licht durch die Fenster über den Boden wanderte.
Es war kein Auftritt mehr, sondern ein stilles Festhalten an einem Augenblick.

Nach dem letzten Ton blieb Anton sitzen.
Er legte die Hände in den Schoß und schloss die Augen.
Er hörte nichts, doch er spürte, dass der Raum noch gefüllt war, nicht mit Klang, sondern mit etwas Tieferem.
Klara sagte nichts.
Auch sie schien zu wissen, dass Worte diesen Moment nur kleiner machen würden.

Auf dem Heimweg gingen sie langsam.
Klara verabschiedete sich an der Ecke zur Hauptstraße, und Anton und Rumo gingen den letzten Teil allein.
Der Himmel färbte sich schon früh in ein blasses Orange, und ein kalter Wind trug den Geruch von Rauch und feuchtem Laub.

Zu Hause setzte Anton sich in seinen Sessel.
Rumo kam und legte den Kopf auf seine Knie.
Anton strich ihm über das Fell und flüsterte:
„Mein Junge, wir haben alles gesagt, was es zu sagen gibt.“

In den Tagen danach spielte Anton kaum noch.
Nicht aus Müdigkeit, sondern weil er wusste, dass das, was er gesucht hatte, schon da war.
Er verbrachte mehr Zeit damit, einfach mit Rumo im Garten zu sitzen oder am Fenster den fallenden Blättern zuzusehen.

An einem frostigen Morgen kurz vor Advent nahm er das Notenheft und legte es auf das Klavier.
Er setzte sich, spielte das Stück ein letztes Mal.
Rumo reagierte wie immer aufmerksam, wach, treu.
Doch als der letzte Akkord verklang, ließ Anton die Hände lange auf den Tasten ruhen.
Er wollte den Moment nicht loslassen.

Schließlich schloss er das Heft, stand auf und stellte es ins Regal.
Er ging zu Rumo, kniete sich hin und legte beide Hände an den Hundehals.
„Danke“, sagte er.
Ein einfaches Wort, das alles enthielt.

Von diesem Tag an spielte Anton nicht mehr regelmäßig.
Aber wenn er es tat, war es nie aus Pflicht, sondern aus Freude.
Und Rumo war immer da, bereit, für ihn zu hören.

An einem späten Nachmittag, als der Himmel sich rosa färbte und das erste Licht der Adventszeit in den Fenstern der Nachbarn leuchtete, saßen sie beide still beieinander.
Kein Klang, kein Publikum, nur die Gewissheit, dass die Musik zwischen ihnen nicht enden würde, solange sie einander hatten.

Der letzte Klang war nicht in einem Saal verklungen.
Er lag hier, in diesem warmen, stillen Raum, in dem ein alter Mann und sein Hund ein Leben lang gemeinsam geübt hatten, zu hören.

Und manchmal ist der letzte Klang kein Ton, sondern das stille Wissen, dass er bleibt.

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