🐾 Teil 4 – Als der Regen kam
Es begann in der Früh zu nieseln. Ganz fein, wie der Hauch eines alten Seufzers.
Elisabeth war schon wach, bevor das erste Licht den Himmel streifte. Sie lag da, neben Emils leerem Körbchen, auf der Decke, auf der sie ihn die Nacht hindurch gestreichelt hatte.
Er war gegangen, wie er gekommen war – leise.
Kein letztes Aufbäumen. Kein Blick zurück.
Nur Stille.
Sie setzte sich langsam auf, streckte die müden Glieder. Die Knochen knackten wie trockenes Holz im Ofen.
Der Korb war noch warm.
Sie legte eine Hand darauf. Und dann – ließ sie sich Zeit.
Es war das erste Mal seit ihrer Pensionierung, dass sie weinte, ohne sich dafür zu schämen.
—
In den Stunden danach ging sie mechanisch vor.
Sie holte eine Schaufel aus dem Schuppen. Wählte die Stelle unter dem alten Apfelbaum, wo früher ihre Katze Klara gelegen hatte.
Der Boden war feucht, aber nicht hart. Und obwohl sie schon fast siebzig war, grub sie ohne Pause.
Das Loch war nicht tief, aber würdig.
Sie wickelte Emil in ein altes Leinentuch. Weiß, mit blauen Streifen. Früher hatte sie es für große Hundeoperationen verwendet.
Sie trug ihn in den Garten, das Herz schwer, aber ruhig.
Die Vögel sangen nicht. Nur der Regen fiel.
Als sie ihn hinunterließ, legte sie noch etwas dazu:
Ein kleiner Lederball, schon angenagt, aber Emil hatte ihn geliebt. Und das Medaillon mit dem Bild von Leo.
„Ihr zwei kennt euch bestimmt schon längst“, sagte sie leise.
Dann begann sie zu schaufeln.
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Nachmittags saß sie in der Küche.
Der Stuhl gegenüber war leer. Kein Körbchen mehr, keine Fressnapfgeräusche, keine Pfoten, die über den Boden schlichen.
Nur eine Tasse Tee – und eine Stille, die diesmal anders klang.
Sie schaute aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört.
Am Apfelbaum hing noch ein einzelner roter Apfel vom Vorjahr, schrumpelig, aber standhaft.
Ein kleines Leben, das nicht loslassen wollte.
—
Gegen Abend nahm sie das alte Fotoalbum wieder hervor.
Blätterte Seite für Seite, langsamer als sonst.
Hier ein Welpe auf ihrer Schulter, da eine Katze mit Verband. Patienten. Erinnerungen. Verpasste Umarmungen.
Sie blieb an einem Bild stehen.
Sie selbst, jünger, lachend, mit einem Notizbuch in der Hand.
*To-Do-Liste für die Pension:
- Norwegen sehen
- Ein Buch schreiben
- Noch einmal lieben*
Sie lachte leise. Ein weiches, ehrliches Lachen.
„Na, Emil… eins von drei. Vielleicht reicht das ja.“
—
Am nächsten Tag setzte sie sich an den alten Schreibtisch im Wohnzimmer.
Er war verstaubt, die Schubladen klemmten.
Aber das Notizbuch lag noch da. Unbenutzt. Seitenweiß.
Sie schlug es auf.
Schrieb in klarer, ruhiger Handschrift:
„Der letzte Patient.
Ein blinder Hund.
Ein stiller Frühling.
Ein zweiter Anfang.“
Dann lehnte sie sich zurück. Und zum ersten Mal seit Jahren atmete sie wirklich aus.