🐾 Teil 5 – Im Takt des Herzens
Die Tage nach Emils Tod verliefen still, aber nicht leer.
Elisabeth erwartete keine Geräusche mehr. Und doch horchte sie – beim Tee kochen, beim Öffnen der Haustür, selbst beim Umblättern der Zeitung – auf ein Bellen, das nicht mehr kam.
Nicht aus Hoffnung.
Nur aus Gewohnheit.
Denn ein Herz, das liebt, verlernt das Hören nicht so schnell.
Sie begann wieder zu schreiben.
Nicht viel. Jeden Tag ein paar Zeilen.
Erinnerungen, Gedanken, kleine Geschichten aus der Praxis.
Manchmal waren sie traurig. Manchmal komisch.
Und immer war Emil dabei.
Nicht als Held.
Sondern als stiller Begleiter.
—
„Du hast mir das Schreiben zurückgegeben“, sagte sie eines Morgens, während sie durch den Garten ging.
Der Apfelbaum war noch feucht vom Tau.
Am Grabstein, den sie selbst aus Holz geschnitzt hatte, stand:
„Emil – mein letzter Patient. Mein stiller Freund.“
Sie legte ein Lavendelzweiglein davor.
Und als der Wind auffrischte, glaubte sie für einen Moment, seine Pfoten im Gras zu hören.
—
In der Stadtbibliothek gab es einmal im Monat einen Lesekreis.
Elisabeth war früher nie hingegangen.
Zu müde, zu beschäftigt, zu gleichgültig.
Aber nun – stand sie in der Tür.
Blass, zurückhaltend, aber aufrecht.
Die Moderatorin, eine junge Frau mit dunklem Dutt und offener Stimme, lächelte sie an.
„Sie sind neu, oder?“
Elisabeth nickte. „Ich… ich hab etwas dabei. Wenn das erlaubt ist.“
„Natürlich. Jeder darf lesen.“
Sie setzte sich. Holte ihr Notizbuch heraus.
Blätterte kurz, räusperte sich.
„Ich würde gern einen Text über einen Hund vorlesen. Er war blind. Aber hat mir mehr gezeigt als jeder Mensch in meinem Leben.“
Der Raum wurde still.
Und dann begann sie zu lesen.
—
Nach der Lesung kamen zwei Frauen zu ihr.
Eine umarmte sie einfach wortlos. Die andere sagte:
„Ich habe auch einen alten Hund. Er kann kaum noch laufen. Aber jetzt weiß ich, dass ich die Zeit mit ihm besser nutzen muss.“
Elisabeth lächelte. Nicht stolz.
Sondern dankbar.
Als hätte sie Emils Geschichte nicht erfunden – sondern überbracht.
—
Am Abend rief sie eine alte Freundin an, mit der sie seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte.
„Ich war heute unter Leuten“, sagte sie.
„Was? Du? Das gibt’s doch nicht!“
„Ich weiß. Ich hätte es selbst nicht geglaubt.“
Kurze Pause.
„Ich vermiss ihn. Aber weißt du… mein Herz schlägt wieder. Im eigenen Takt. Nicht mehr gegen die Stille.“
—
Sie legte sich später ins Bett.
Und als sie das Licht löschte, blieb es nicht schwarz.
Da war etwas Helles. Warmes.
Nicht draußen.
Sondern in ihr.