Der letzte Patient | Der letzte Patient war kein Mensch – doch er gab ihr Mut, neu zu beginnen

🐾 Teil 6 – Ein Brief, den niemand erwartet hat

Am nächsten Morgen lag ein Umschlag im Briefkasten, der nicht nach Werbung oder Rechnung aussah.

Kein Absender.

Nur ihr Name – Dr. Elisabeth Rehfeld – in sorgfältiger Handschrift, altmodisch, fast ehrfürchtig geschrieben.

Sie drehte ihn in der Hand, spürte das leichte Zittern ihrer Finger.

Papier war selten geworden in einer Welt der E-Mails. Umso mehr wog jeder Brief wie eine kleine Zeitreise.

Sie setzte sich in der Küche an den Tisch, neben Emils leeres Körbchen.
Öffnete den Umschlag.
Und begann zu lesen:


„Sehr geehrte Frau Dr. Rehfeld,

Sie kennen mich nicht – aber ich kenne Sie. Nicht persönlich, sondern durch die Geschichten, die mein Vater über Sie erzählt hat.

Er hieß Ralf Behrens. Feuerwehrmann. Ihr… ich weiß nicht, ob das Wort ‚Freund‘ zutrifft. Aber er hat Sie geliebt. Sehr.

Kurz vor seinem letzten Einsatz hat er mir – ich war damals siebzehn – einen Brief gegeben. ‚Gib ihn ihr, wenn du denkst, sie braucht ihn irgendwann‘, sagte er.

Ich habe ihn nie geschickt. Ich wusste nicht, wann ‚irgendwann‘ ist.

Aber vor einigen Tagen stieß ich auf einen kleinen Artikel über eine Frau, die im Lesekreis der Stadtbibliothek über einen blinden Hund gelesen hat. Der Text hat mich bis ins Mark getroffen. Und ich wusste: Jetzt ist das Irgendwann.

Der Brief liegt bei. Ich hoffe, Sie verzeihen mir die lange Stille.

Mit Respekt und Dankbarkeit,
Sophie Behrens“

Elisabeths Herz schlug laut.
Sie legte den ersten Brief beiseite – und nahm das zweite Blatt Papier zur Hand.

Alt. Vergilbt.
Mit Tinte geschrieben, in vertrauten, leicht schrägen Buchstaben.


„Lisbeth,
falls du diesen Brief bekommst, dann bin ich wahrscheinlich nicht mehr da.

Ich will keine großen Worte machen. Nur eines sagen: Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.
Nicht, als du gegangen bist. Nicht, als du geschwiegen hast. Nicht, als ich wusste, dass du dich nie entschieden hast – weil du zu gut bist, um Schuld zuzuweisen.

Ich bin stolz, dich gekannt zu haben. Stolz, dass du dich um andere gekümmert hast, während ich in brennende Häuser lief.
Und ich hoffe, dass du eines Tages nicht nur an mich denkst – sondern wieder lachst. Wieder liebst. Wieder vertraust.

Wenn du einen Hund findest, der nicht sehen kann, aber dich trotzdem findet – dann weißt du: Ich bin bei dir.

In Liebe,
Ralf

Sie las den letzten Absatz noch einmal.
Dann noch einmal.
Die Tinte war dort dunkler. Fast, als hätte er beim Schreiben gedrückt.
Oder gezögert.

Elisabeth stand auf.
Ging langsam zum Fenster. Schaute in den Garten.

„Ein Hund, der nicht sehen kann…“

Sie schloss die Augen.
Und spürte ihn.
Nicht Emil.

Nicht Ralf.
Sondern beides.
Wie zwei Stimmen, die im Takt des Herzens sprachen.

Am Abend schrieb sie zurück.
Nicht an Sophie.

Nicht an Ralf.
Sondern an sich selbst.

„Ich vergebe dir. Für das Schweigen. Für das Warten. Für das Wegsehen.
Denn jetzt sehe ich wieder. Mit geschlossenen Augen. Und einem offenen Herzen.“

Sie legte den Brief unter Emils Körbchen.
Und wusste: Der letzte Patient war nicht Emil.

Es war sie selbst gewesen.

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