Der letzte Patient | Der letzte Patient war kein Mensch – doch er gab ihr Mut, neu zu beginnen

🐾 Teil 10 – Der Frühling bleibt ein bisschen länger

Die Kirschbäume blühten.
In voller Pracht, als hätten sie beschlossen, dieses Jahr alles ein wenig länger festzuhalten.

Der Frühling war gekommen – nicht nur draußen.
Auch in Elisabeth.

Noah wuchs in die Tage hinein wie ein Lied, das man nicht kannte, aber sofort mitsummen konnte.

Er war wild, ungestüm, voller Leben. Er jagte seinem eigenen Schatten hinterher, knabberte an den Küchenschuhen und bellte empört, wenn die Kaffeemaschine zischte.
Aber manchmal…

…manchmal lag er einfach nur da.
Ganz ruhig.
Die Schnauze auf ihren Knien.

Und dann erinnerte sie sich – an Emil.
An Leo.
An sich selbst.

Sie ging wieder regelmäßiger spazieren.
Die Leute grüßten sie. Manche blieben stehen.

„Ist das Ihr Neuer?“
„Wie heißt er denn?“
„Sie sehen jünger aus als letztes Jahr, Frau Doktor.“

Sie lachte. Nicht verlegen. Nicht abwehrend.
Sondern aus vollem Herzen.

Und das Lachen blieb – auch nachdem die Gespräche vorbei waren.

Eines Tages saß sie mit Noah im Garten, als sie im Radio eine alte Melodie hörte.
Ein Walzer, den Ralf geliebt hatte.

Sie stand auf.
Hob die Arme, als würde jemand gegenüberstehen.
Tanzte.

Langsam, unbeholfen, barfuß auf feuchtem Gras.
Noah schaute sie verwirrt an, legte dann den Kopf schief und bellte leise – fast wie Zustimmung.

„Ja, ich weiß. Ich bin alt“, sagte sie keuchend.
„Aber das Leben hat mir noch einmal die Hand gereicht.“

Am Abend schrieb sie ihren letzten Eintrag in das Notizbuch.
Sie schlug eine neue Seite auf, schrieb mit ruhiger Hand:

„Der letzte Patient war nicht blind.
Er war sehend.

Er sah in mir, was ich selbst vergessen hatte: Mut.
Und der Neue?

Er bleibt.
Weil ich es zulasse.“

Dann schloss sie das Buch.
Band es mit einer Kordel zu.

Und legte es in das unterste Fach ihrer Kommode, neben alten Impfausweisen und einem verblichenen Foto von Ralf.

Ein Jahr später blühten die Kirschbäume wieder.
Und ein kleiner Junge, der mit seiner Mutter durch den Garten ging, fragte:

„Wer ist Emil?“
Die Mutter zeigte auf das Holzschild unter dem Apfelbaum.
„Ein Hund. Ein Freund. Eine Erinnerung.“

Elisabeth lächelte.
Sie saß auf der Bank, Noah zu ihren Füßen.

Der Junge beugte sich runter, streichelte Noahs Kopf.
„Darf ich ihn mal führen?“
Elisabeth nickte.

Der Junge nahm die Leine.
Noah ließ es zu.

Und dann liefen sie los.
Der Junge, der Hund, und dahinter die Frau, die wieder Vertrauen gelernt hatte.

Im Hintergrund sang ein Vogel.
Nicht laut.
Aber klar.

Und der Frühling blieb.
Ein bisschen länger.
Dieses Mal für immer.

– Ende –
🐾 Danke fürs Lesen von „Der letzte Patient“

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