Teil 4: Das alte Fotoalbum – und die vergessene Reise ans Meer
Zwei Tage später.
Der Himmel über Bad Zwischenahn war wolkenlos.
Die Luft trug den ersten Hauch von Frühling in sich – diesen stillen Geruch nach aufwachender Erde.
Andrea war in der Küche, als sie das leise Kratzen hörte.
Sie drehte sich um.
Walter stand im Flur. In Pantoffeln, mit offener Strickjacke.
In der Hand hielt er etwas – eine staubige Mappe aus grauem Leinen.
„Ich hab was gefunden“, sagte er.
Seine Stimme war fest. Klarer als sonst.
Andrea breitete die Mappe auf dem Tisch aus.
Sie schlug sie vorsichtig auf.
Das Papier roch alt. Ein bisschen nach Zigarren. Ein bisschen nach Vergangenheit.
Ein Foto fiel heraus.
Gerda.
Auf einem Liegestuhl. Barfuß. Die Haare vom Wind zerzaust.
Neben ihr saß ein junger Walter, Sonnenbrille auf der Nase, ein Arm lässig um sie gelegt.
Und im Vordergrund: ein fremder Hund. Weiß, kurzhaarig, mit schrägem Blick.
Walter tippte mit dem Finger aufs Bild.
„Das war Norddeich. 1972. Wir haben da gezeltet. Weißt du, Andrea? Du warst noch nicht mal geplant.“
Er lachte.
Und dann – ganz plötzlich – verstummte er.
„Wie hieß der Hund?“, fragte Andrea.
Walter schwieg lange.
Dann flüsterte er:
„Ich weiß es nicht mehr. Aber er war lieb. Er hat auf uns aufgepasst. Wenn Gerda allein schwimmen ging, hat er immer ans Ufer gestarrt.“
Er sah das Bild an, als sähe er es zum ersten Mal.
„Komisch, oder? Dass man sich an das Gefühl erinnert, aber nicht an den Namen.“
Sie blätterten weiter.
Bilder von früher: Weihnachten 1984, der Schrebergarten in Augustfehn, Andrea als Baby auf Walters Schultern.
Und dann – eine leere Seite.
Ein paar Klebereste. Keine Fotos mehr.
Walter strich über das Papier.
„Da fehlen welche. Ich glaub, ich hab sie… weggeschmissen. Oder sie sind einfach… verschwunden.“
Andrea schüttelte den Kopf.
„Vielleicht hast du sie einfach irgendwo anders hingelegt.“
Walter lächelte.
„Oder vielleicht hat Fiete sie gefressen.“
Sie lachten.
Ein echtes Lachen.
Und Fiete hob kurz den Kopf, als wolle er protestieren.
Am Nachmittag machten sie wieder ihren Spaziergang.
Diesmal ging Andrea mit.
Walter ging langsam, aber aufrecht.
Fiete trabte dicht neben ihm, ab und zu schnupperte er an einem Strauch oder einer alten Parkbank.
„Du, Andrea“, sagte Walter, während sie den Kiesweg entlanggingen.
„Wenn ich mal alles vergesse… dann bleibst du trotzdem da, oder?“
Sie blieb stehen.
„Was meinst du?“
Er sah sie ernst an.
„Ich meine… nicht nur körperlich. Ich meine, du… erkennst mich trotzdem. Auch wenn ich dich nicht mehr erkenne.“
Andrea schluckte.
„Ja, Papa. Ich bleib. Und Fiete auch.“
Am Abend ging sie allein auf den Dachboden.
Etwas in ihr sagte, dass da noch mehr war.
Die Dielen knarrten unter ihren Schritten.
Zwischen alten Koffern, einem Klappstuhl und zerplatzten Pappkartons fand sie schließlich eine kleine, blaue Kiste.
Sie war mit einem Lederriemen verschnürt.
Innen:
– Zwei Briefe, adressiert an „Gerda“
– Eine Muschelkette
– Und ein Foto.
Ein altes Polaroid.
Walter, barfuß, in kurzen Hosen.
In der Hand: ein junger Hund.
Und auf der Rückseite, in krakeliger Handschrift:
„Fiete – Sommer 2011. Unser letzter Neuanfang.“
Andrea spürte ein Stechen im Bauch.
Es gab zwei Fietes.
Sie nahm das Bild mit nach unten.
Walter saß im Sessel, eine Decke über den Beinen.
Sie setzte sich neben ihn, zeigte ihm das Foto.
Er starrte lange darauf.
Dann liefen ihm Tränen über die Wangen.
„Das war der erste Fiete. Der junge. Der, den wir aus dem Tierheim geholt haben, als Gerda so krank war. Ich hab ihn benannt nach meinem Vater. Und als er starb… ein Jahr später… hab ich gesagt: Nie wieder.“
Er legte das Bild auf seine Brust.
„Und dann kam dieser hier.“
Er sah zu dem Hund hinüber, der unter dem Tisch lag.
„Der neue Fiete. Auch aus dem Tierheim. Auch grau. Auch stur. Auch treu.“
Er lächelte.
„Ich glaube… ich hab mir damals gewünscht, dass der alte Fiete zurückkommt. Und vielleicht… hat er es getan.“
Die nächsten Tage waren ruhig.
Walter vergaß kaum etwas.
Er schrieb wieder Listen, kleine Notizen an sich selbst.
Er sprach viel mit Andrea.
Und Fiete – der neue, alte Fiete – wich ihm nicht von der Seite.
Doch die Krankheit wartete.
Still. Geduldig.
Und irgendwann – eines Nachts – würde sie zurückkehren.
Andrea wusste das.
Walter auch.
Aber im Moment war alles gut.
Noch war es Frühling.
Noch wuchsen die Knospen an den Zweigen.
Noch führte der Weg zur Bank im Park.
Und eines Tages – mitten im Lachen – sagte Walter:
„Ich glaube, ich möchte noch einmal ans Meer.“