Der letzte Spaziergang | Er vergaß fast alles im Leben – doch nie den Hund, der ihn heimführte

Teil 5: Die letzte Reise – ein Versprechen im Wind

Es war Andrea, die alles organisierte.
Ein Ferienhaus in Norddeich, nur 500 Meter vom Deich entfernt.
Ein einfacher Bungalow mit Holzmöbeln, etwas muffigem Teppich – aber mit Meerblick.
Walter hatte nie viel gebraucht. Und Fiete schon gar nicht.

„Drei Nächte“, hatte Andrea gesagt.
„Wir machen keinen großen Plan. Einfach nur ankommen. Spazieren. Erinnern.“

Walter hatte genickt.
Nicht weil er alles verstand – sondern weil das Wort „Meer“ etwas in ihm auslöste.
Etwas Altes. Etwas, das noch leuchtete, obwohl drumherum schon vieles dunkel wurde.

Sie fuhren am frühen Morgen los.
Walter auf dem Beifahrersitz, mit Fiete zu seinen Füßen.
Der Hund hatte den Kopf auf Walters Schuh gelegt und schlief.
Andrea fuhr ruhig, mit Blick auf die Landstraße. Keine Musik. Kein Radio. Nur das gleichmäßige Brummen der Reifen.

„Du…“, sagte Walter irgendwann.
„Was ist eigentlich aus dem alten Wohnwagen geworden?“

Andrea brauchte einen Moment.

„Der steht noch bei Tante Ulla. Ich glaub, der ist durchgerostet.“

Walter nickte.

„Wir haben da mal übernachtet… in einem Sturm. Gerda hat geschrien, weil der Vorhang sich bewegt hat wie ein Gespenst.“

Er lachte.
Und dann wurde er still.

Die Fahrt dauerte drei Stunden.
Als sie ankamen, wehte ein starker Wind vom Westen her.
Der Himmel war bleigrau.
Aber das Meer – das war da.
Und Walter stand am Fenster und sah hinaus.
Ohne Worte. Mit feuchten Augen.

Am Nachmittag machten sie ihren ersten Spaziergang.
Walter ging langsam.
Fiete lief frei, aber blieb nah.
Andrea hielt Abstand – ließ die beiden gehen, Schritt für Schritt, wie durch eine vertraute Erinnerung.

Am Deich setzte Walter sich auf eine Bank.
Er sah hinaus aufs Watt. Möwen kreischten. Die Luft schmeckte nach Salz.

„Hier saßen wir auch damals“, sagte er.
„Gerda trug einen gelben Mantel. Ich hab sie fotografiert, aber der Film war leer.“

Er lächelte schief.
„Ich hab trotzdem gesagt, das Bild sei wunderschön.“

Fiete setzte sich neben ihn.
Der Wind fuhr durch sein Fell.
Er schien zu lauschen.

„Manchmal denk ich“, murmelte Walter, „Fiete ist mein Gedächtnis. Er merkt sich, wo ich schon war. Und wer ich war.“

Andrea stand ein paar Meter entfernt, hörte jedes Wort.
Sie wischte sich die Augen.
Nicht aus Traurigkeit – sondern weil sie wusste, dass dies einer dieser seltenen Momente war, in denen alles stimmte.

Am zweiten Abend setzte Walter sich an den Küchentisch.
Er hatte ein Blatt Papier vor sich.
Und einen Stift.

Andrea trat näher.

„Was machst du?“

„Ich schreib’s auf. Für später.“

„Was?“

Er sah sie an. Seine Hand zitterte leicht.

„Das Meer. Der Geruch. Die Bank. Fiete neben mir. Ich will das nicht verlieren.“

Sie setzte sich. Sagte nichts.
Er schrieb langsam. Kein richtiger Text – eher Fragmente. Wörter. Gerüche. Farben.

„Kannst du das mal für mich in ein richtiges Heft schreiben, wenn ich’s nicht mehr kann?“, fragte er schließlich.
Andrea nickte.
„Ich bewahr dir alles, Papa.“

In der Nacht träumte Walter von der Flut.
Er stand allein auf einem Steg.
Fiete bellte in der Ferne.
Und plötzlich war Gerda da – winkend, lachend, mit baren Füßen im Wasser.
Walter lächelte.
Und weinte im Schlaf.

Der letzte Morgen begann mit Regen.
Sanftes Trommeln auf dem Fensterglas.
Walter saß bereits angezogen auf dem Sofa. Fiete lag zu seinen Füßen.

„Können wir noch einmal runter ans Wasser?“, fragte er.

Andrea zögerte.
Doch dann nickte sie.

Der Regen ließ nach, als sie den Deich erreichten.
Walter ging langsam. Aber allein.
Fiete ging ohne Leine neben ihm.
Andrea folgte mit etwas Abstand.

Unten am Spülsaum blieb Walter stehen.
Die Wellen schwappten träge an den Rand.
Er hob einen Stein auf, betrachtete ihn lange, als wollte er ihn sich einprägen. Dann warf er ihn ins Wasser.

„Da“, sagte er.
„Ein Versprechen.“

„Was für eins?“, fragte Andrea leise.

Er drehte sich um.
„Dass ich zurückkomme. Vielleicht nicht als der, der ich jetzt bin. Aber Fiete wird mich erkennen.“

Auf der Rückfahrt schlief Walter fast die ganze Zeit.
Als sie wieder in Bad Zwischenahn ankamen, war es schon dunkel.
Walter murmelte im Halbschlaf:

„Das Meer… hat mich erinnert.“

Andrea sah zu Fiete auf der Rückbank.
Der Hund hob den Kopf, sah kurz aus dem Fenster – dann schloss er die Augen.

In der folgenden Woche war Walter stiller.
Er verwechselte öfter die Uhrzeit. Fragte zweimal nach dem Wochentag.
Doch wenn er mit Fiete draußen war, war alles wie immer.
Schritt für Schritt.
Weg, Bank, Rückweg.

Bis zu dem Morgen, an dem Walter die Haustür nicht mehr fand.

Er stand im Garten.
Die Leine in der Hand.
Der Blick suchend.

Fiete bellte – einmal, dann zweimal.

Andrea fand ihn dort.
Zitternd. Mitten zwischen den Büschen.

„Ich wusste, ich muss raus… aber ich wusste nicht, wo ich rein soll“, flüsterte Walter.

Sie brachte ihn ins Haus.
Zog ihm die Jacke aus. Gab ihm Tee.
Und hielt seine Hand.

„Es wird schlimmer, oder?“, fragte er.
Andrea nickte.

„Aber ich bleib bei dir.“

Er sah zu Fiete, der sich zu ihren Füßen gelegt hatte.
„Er auch.“

Und in dieser Nacht begann Andrea, ein Heft zu schreiben.
Seite für Seite.
Über Walter.
Über Gerda.
Über Norddeich.
Und über einen Hund, der immer den Weg zurückfand.

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