Der letzte Spaziergang | Er vergaß fast alles im Leben – doch nie den Hund, der ihn heimführte

Teil 6: Der verschwundene Hund – und was wirklich verloren ging

Es war ein Mittwochmorgen im April.
Der Himmel war bleich, als hätte jemand die Farben ausgewaschen.
Walter saß bereits angezogen auf dem Bettrand, als Andrea das Frühstück auf den Tisch stellte.

„Hast du gut geschlafen, Papa?“

Walter nickte.
Dann runzelte er die Stirn.

„Sag mal… wo ist denn der Hund?“

Andrea blickte zum Wohnzimmerteppich. Kein Fiete.
Auch nicht in der Küche, nicht im Flur.

„Vielleicht liegt er noch draußen im Garten“, sagte sie.
Doch in ihrer Stimme klang bereits eine Ahnung mit, die ihr nicht gefiel.

Sie durchsuchten das Haus.
Garten, Geräteschuppen, sogar unter dem Sofa.
Kein Fiete.

Walter wurde unruhig.
„Der ist doch nie einfach weg. Der geht doch nie allein!“

Andrea zwang sich zur Ruhe.
Sie zog eine Jacke über, griff nach der Hundepfeife.
Sie pfiff. Zweimal.

Dann wieder.
Nichts. Nur das leise Rascheln der Hecke im Wind.

„Vielleicht ist das Gartentor aufgeblieben“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Walter.

Sie lief los, in Hausschuhen, durch den nassen Rasen zum Tor.
Es war angelehnt. Nicht richtig geschlossen.
Ein Spalt, gerade groß genug für einen alten Hund mit dickem Fell.

Andrea schloss die Augen.

„Verdammt“, flüsterte sie.

Walter saß am Küchentisch.
Er hielt die Leine in der Hand, als müsse sie ihn mit der Welt verbinden.
„Ich hab ihn rausgelassen, oder? Ich hab’s vergessen, ihn wieder reinzuholen…“

„Das kann passieren, Papa.“

„Aber es darf nicht passieren! Er kommt doch immer zurück. Immer!“
Seine Stimme überschlug sich, Verzweiflung zitterte darin.

Andrea kniete sich vor ihn.

„Hör zu. Wir finden ihn. Er kennt den Weg. Vielleicht ist er nur kurz zum Park. Wie früher. Er macht seinen Spaziergang, weil er weiß, dass du es heute nicht konntest.“

Walter sah sie an – einen Moment klar, wach.
Dann sackte sein Blick wieder ab.

„Ich wollte doch mit. Ich hab’s verpasst.“

Andrea informierte die Nachbarn.
Sie hängte Zettel auf:
„Hund entlaufen – graues Fell, alt, hört auf ‘Fiete’. Bitte nicht festhalten, nur melden.
Walter Schenk, Am Brink 12, Tel. 04763/…“
Sie rief im Tierheim an, beim Ordnungsamt, beim Tierarzt.

Keine Spur. Keine Sichtung.

Gegen Abend saß Walter im Wohnzimmer, die Jacke noch immer an.
Er starrte auf die Tür.

„Er kommt gleich“, sagte er leise.
„Er war immer pünktlich.“

Andrea stellte ihm Tee hin.
Er rührte nicht.

In der Nacht träumte Walter, dass er im Park stand.
Er rief, immer wieder.
Doch es kam kein Laut zurück.
Nur ein leeres Feld. Und Nebel. Und ein Gefühl in der Brust, das brannte wie Frost.

Am nächsten Morgen fanden sie Fiete.

Ein alter Mann vom Friedhof hatte ihn gesehen – am Grab von Gerda.
Er lag dort im Gras, still, die Nase auf den Pfoten, als hätte er gewartet.

„Er lag da wie ein alter Freund, der noch einmal schauen wollte, ob alles in Ordnung ist“, sagte der Friedhofsgärtner.

Andrea kniete sich zu ihm, legte eine Hand auf seinen Rücken.
„Fiete… komm, wir gehen nach Hause.“

Langsam hob er den Kopf.
Ein leiser Laut kam aus seiner Kehle.
Kein Winseln, kein Bellen.
Ein Laut, wie aus weiter Ferne.

Sie nahm ihn mit.
Langsam. Schritt für Schritt.
Walter wartete an der Tür.

Als er den Hund sah, schien etwas in ihm zu leuchten.
Ein Blick, der klar war wie lange nicht.
Er streckte die Hand aus.

„Da bist du ja, mein Junge.“

In der Nacht schlief Fiete nicht im Körbchen.
Er lag neben Walters Bett.
Die Nase unter der hängenden Hand seines Menschen.

Andrea beobachtete sie beide im Türrahmen.
Und sie wusste:
Nicht der Hund hatte sich verirrt.
Sondern Walter.
Und Fiete war dorthin gegangen, wo alles einmal begonnen hatte.

Am nächsten Tag brachte sie Walter wieder zum Friedhof.
Fiete trottete neben ihnen her.

„Ich wusste gar nicht mehr, wo sie lag“, sagte Walter.

Andrea nahm seine Hand.
„Aber Fiete wusste es.“

Sie blieben lange dort.
Walter sprach leise.
Nicht über Gerda.
Sondern mit ihr.

Andrea hörte nicht die Worte.
Nur den Ton.

Es war ein Ton, den nur alte Liebe kennt.
Und alte Hunde.

Am Abend saßen sie wieder auf der Bank am Park.
Walter sah in die Ferne.
Fiete lag zu seinen Füßen, der Kopf schwer, die Augen halb geschlossen.

„Andrea… wenn ich mal ganz weg bin… dann bring ihn hierher, ja?
Lass ihn noch einmal schnuppern.
Und wenn er dann zurückläuft… dann weiß ich, dass ihr beide an mich denkt.“

Andrea nickte.
Die Tränen liefen lautlos.
Nicht aus Schmerz.
Sondern aus Dankbarkeit.

Fiete hob den Kopf.
Ein Vogel flog vorbei.
Dann senkte er ihn wieder.

Und Walter schloss die Augen.
Nicht für immer.
Nur für diesen Abend.

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