Teil 7: Der Tag ohne Namen – und das Gesicht im Spiegel
Es begann damit, dass Walter nicht wusste, welcher Wochentag war.
Nicht ungewöhnlich – das kam öfter vor.
Aber diesmal fragte er es nicht.
Er fragte gar nichts.
Er saß im Morgenmantel am Küchentisch, starrte auf eine Scheibe Toast, die schon kalt war.
Andrea stand an der Spüle, beobachtete ihn still.
„Papa, willst du ein Ei?“
Keine Reaktion.
Sie trat näher.
„Papa?“
Walter hob langsam den Kopf.
Sein Blick war trüb, glitt an ihr vorbei wie ein Schleier über Glas.
Dann sagte er:
„Entschuldigung… wohnen Sie hier?“
Andrea fror der Rücken.
Sie rief den Arzt an.
Der Hausarzt kam gegen Mittag, hörte ab, stellte Fragen.
Walter antwortete höflich, aber vage.
Er wusste nicht, wo er war. Nicht, welches Jahr. Nicht, ob er Kinder hatte.
Doch als Fiete hereinkam, hellte sich sein Gesicht für einen Moment auf.
„Na, mein Junge“, sagte er.
Und seine Hand fand den vertrauten Platz hinter dem Ohr des Hundes.
Nach dem Arztbesuch saßen Andrea und Walter im Wohnzimmer.
Fiete schlief zu Walters Füßen.
Die Nachmittagssonne warf Streifen auf den Teppich.
Andrea zeigte ihm das kleine Heft, das sie begonnen hatte zu schreiben.
„Darf ich dir etwas vorlesen, Papa?“
Er nickte.
Sie las von Norddeich.
Vom Stein am Meer.
Von der Bank im Park.
Von Gerda und dem Wohnwagen, vom leeren Film in der Kamera.
Walter lächelte schwach.
Dann flüsterte er:
„Klingt schön.
Kennen wir die Leute?“
Andrea schluckte.
„Ja. Das bist du.“
Er runzelte die Stirn.
„Ich? Nein. Ich bin… ich bin Gärtner, glaub ich. Ich war nie am Meer.“
Fiete hob den Kopf, als hätte er den Wind gerochen.
Langsam stand er auf und stupste Walter an der Hand.
Walter streichelte ihn automatisch, wie aus tiefer Erinnerung.
Am nächsten Morgen stand Walter im Flur, völlig angezogen – sogar mit Hut.
Andrea kam verschlafen aus dem Zimmer.
„Papa? Wohin willst du?“
Er blickte sie lange an.
Dann zeigte er auf die Tür.
„Ich bring den Jungen raus. Das ist mein Job.“
Er wusste ihren Namen nicht.
Aber er wusste, was zu tun war.
Andrea folgte ihm.
Fiete führte wie immer.
Sie gingen den alten Weg.
Walter war ruhig, schien den Rhythmus des Gehens zu brauchen.
Er redete leise mit dem Hund.
Andrea hörte nur einzelne Sätze.
„…du musst mir helfen, Junge…
…wenn sie fragt, sag du’s…
…ich glaub, ich werd müde.“
Sie setzten sich auf die Bank.
Die Luft roch nach Erde und altem Laub.
Walter sah sie an.
„Wissen Sie, mein Vater hieß auch Fiete. Und wenn der gewusst hätte, dass ich so langsam werde…“
Andrea nickte nur.
In dem Moment wusste sie, dass sie ihn nicht korrigieren durfte.
Denn was blieb, war nicht immer die Wahrheit – sondern das Gefühl.
Am Nachmittag kam der Spiegelmoment.
Walter stand im Badezimmer.
Er starrte ins Spiegelbild.
Andrea trat hinzu, sah ihn dort stehen.
Reglos. Stumm.
„Alles gut, Papa?“
Er zeigte auf das Glas.
„Der da.
Der da… der sieht traurig aus.
Ist das ein Nachbar von uns?“
Sie trat hinter ihn.
Legte die Arme um ihn.
„Nein.
Das bist du, Papa. Und ich bin da.“
Er zitterte.
Nicht vor Kälte.
Sondern vor Ahnung.
„Ich glaub, ich verliere mich, oder?“
Andrea flüsterte:
„Nicht ganz.
Ich trag dich mit.
Du gehst nicht allein.“
In dieser Nacht saß sie lange wach.
Sie blätterte im Erinnerungsheft.
Dann begann sie, Fotos auszuschneiden und einzukleben.
Schrieb daneben in großen, klaren Buchstaben:
„Das bist du mit Mama am Meer.“
„Das war dein Garten.“
„Hier wohnst du jetzt.“
„Fiete ist dein Hund.“
Sie legte das Heft neben sein Bett.
Mit einem Post-it:
„Wenn du wach wirst und nicht weißt, wo du bist – lies mich.“
Am nächsten Morgen lag das Heft offen.
Auf der Seite mit dem Bild von Fiete.
Darunter stand in zittriger Handschrift:
„Ich kenn ihn. Er hat mich nie vergessen.“
An diesem Tag verlor Walter zum ersten Mal den Weg zurück vom Bäcker.
Er hatte sich heimlich davongemacht.
Mit einer Einkaufstasche.
Er wollte Andrea überraschen.
„Ein Brötchen zum Sonntag“, hatte er gesagt, „das muss sein.“
Als sie ihn fand – in einer kleinen Straße hinter dem Supermarkt – saß er auf dem Bordstein, die Tüte zerknüllt in der Hand.
Er zitterte.
„Ich wusste, ich muss was holen.
Aber ich wusste nicht mehr, was.
Und dann hab ich den Heimweg vergessen.“
Andrea hockte sich zu ihm.
Fiete legte sich neben ihn.
Und sie blieben eine Weile einfach so da – inmitten der Welt, die immer größer wurde, je kleiner Walter wurde.
Am Abend bat Walter:
„Lass mich bitte nicht allein einschlafen.“
Andrea nickte.
Sie stellte einen Sessel ans Bett, Fiete legte sich zu ihren Füßen.
Walter drehte den Kopf zu ihr.
„Und wenn ich morgen aufwach und alles ist weg?“
„Dann lesen wir wieder zusammen.
Dann gehst du mit Fiete.
Und ich nehm deine Hand.“
Walter schloss die Augen.
„Dann ist es gut.“
Die Nacht verging ruhig.
Und als der Morgen kam, war das erste, was Walter tat:
Er suchte das Gesicht von Fiete.
Und als er ihn sah, sagte er leise:
„Na, mein Junge.
Sind wir noch da?“
Und Fiete bellte – einmal, leise, zustimmend.