Der letzte Spaziergang | Er vergaß fast alles im Leben – doch nie den Hund, der ihn heimführte

Teil 8: Wenn der Tag sich wiederholt – und doch alles anders ist

Es war ein Donnerstag, zumindest laut Kalender.
Für Walter war es Montag.
Wie gestern. Und vorgestern.
Er stand um zehn Uhr auf, zog sich an, nahm die Leine.

„Ich geh mit dem Jungen. Wie immer.“

Andrea stellte ihm die Schuhe hin, half ihm in die Jacke.
Sie sagte nicht, dass es regnete.
Sie sagte nicht, dass es der dritte Spaziergang an diesem Tag war.
Manchmal war es besser, den Tag nicht zu korrigieren – sondern zu begleiten.

Fiete wartete wie immer an der Tür.
Geduldig.
Er wusste, wann es losging.
Er wusste auch, wann er führen musste.

Sie gingen denselben Weg.
Links am Kiosk vorbei.
Dann durch den kleinen Park.
Zur Bank unter den Kastanien.

Walter sprach wenig.
Aber sein Schritt war sicher.
Der Körper erinnerte sich, was der Kopf vergaß.

Andrea folgte in der Ferne.
Nicht zu nah – damit er sich frei fühlte.
Nicht zu weit – damit sie ihn nicht verlor.

An der Bank setzte er sich.
Fiete legte sich zu seinen Füßen.
Walter strich ihm übers Fell.

„Weißt du, Junge… ich glaub, ich war mal verliebt. Richtig. So mit allem.“
Er sah geradeaus.
„Aber ich weiß nicht mehr, wie sie roch. Nur, dass ihre Stimme mir den Kopf beruhigt hat.“

Andrea hörte jedes Wort.

„Ich weiß noch, dass wir uns am Fenster gestritten haben. Wegen dem Kissen.
Und dass sie dann lachte.
Ich hab immer gesagt: Wenn ich mal nichts mehr weiß, will ich nur das Lachen behalten.“

Zuhause stand das Mittagessen auf dem Tisch.
Er wusste nicht, dass er es selbst gekocht hatte – vor einem Jahr, nach altem Rezept.
Andrea hatte es eingefroren.
Jetzt war es wieder da.
Genau wie der Geruch, der durch die Küche zog.

Walter roch daran.
Lächelte.

„Rind?“, fragte er.
„Mit Zwiebel?“

Andrea nickte.
„Nach deinem Rezept.“

„Ich kenn das?“

„Ja. Und ich hab’s aufgeschrieben.
Im Heft, erinnerst du dich?“

Er überlegte.
Dann stand er auf.
Ging langsam ins Wohnzimmer.
Und kam mit dem Heft zurück.

Er blätterte.

„Hier… Seite 12. ‘Paprikagulasch nach Walters Art’.“
Er grinste.
„Dann ist das wohl meiner.“

Später am Nachmittag fiel Regen.
Walter saß am Fenster, sah den Tropfen zu.
„Schau“, sagte er zu Fiete, „das sind Gedanken, die vom Himmel tropfen.“

Fiete gähnte.

Andrea lachte leise.
„Und was denkt der Himmel heute?“

Walter überlegte.

„Er erinnert sich.
An uns.
An die alten, langsamen Spaziergänger mit dem klugen Hund.“

Dann kam der Abend.
Und mit ihm die Verwirrung.

Walter ging ins Bad.
Kam mit nassen Händen zurück.
„Da war jemand. Im Spiegel.
Ein alter Mann.
Ich glaube, ich kenn den.“

Andrea nickte.
„Du warst das, Papa.“

„Ich?
Aber ich fühl mich jünger.
Jünger als der Mann dort.“

Er setzte sich.
Langsam.
Dann sagte er:

„Ich glaube, ich habe heute Geburtstag.“

Andrea runzelte die Stirn.
„Nein, Papa. Der ist erst in zwei Monaten.“

Er schüttelte den Kopf.
„Aber so fühlt es sich an. Als ob irgendwas beginnt. Heute.“

In der Nacht redete Walter im Schlaf.
Andrea hörte ihn durch die Wand.

„Fiete… warte…
Nicht zu schnell…
Ich komm ja…“

Sie stand auf.
Schlich in sein Zimmer.
Setzte sich neben ihn.

Seine Stirn war schweißnass.
Er flüsterte:
„Ich hab ihn verloren. Er war weg.
Und ich war… ganz allein.“

Andrea legte ihre Hand auf seine.

„Fiete ist hier, Papa.
Er schläft auf deinem Teppich.“

Walter öffnete die Augen.
Sah sie.
Dann den Hund.
Und atmete tief aus.

„Dann kann ich weiterschlafen.“

Der nächste Morgen war klar.
Die Sonne lag wie warmer Honig auf dem Fensterbrett.

Walter stand früh auf.
Er wusste nicht, wie er hieß.
Aber er wusste: Es war Zeit zum Gehen.

Andrea stand bereit.
Mit Jacke. Mit Leine.
Fiete schwanzwedelnd an der Tür.

Walter lachte.

„Wie oft bin ich diesen Weg gegangen?
Hundertmal? Tausendmal?“

Andrea antwortete nicht.
Denn es war egal, wie oft.
Wichtig war nur: Er ging.

Unterwegs blieb er stehen.
Zeigte auf eine Bank.

„Hier… das ist die Bank, oder?“

Andrea nickte.
„Ja, Papa. Deine Bank.“

Er setzte sich.
Fiete legte sich nieder.
Die Sonne wärmte sein Gesicht.

„Heute“, sagte er, „ist es Montag.
Ich weiß, das sagen Sie immer anders.
Aber für mich ist Montag.
Der erste Tag.
Von etwas, das noch bleibt.“

Andrea sah ihn an.
Und sie wusste:
Der Tag hatte keinen Namen.
Aber er hatte Bedeutung.

Und als sie zurückkamen, wartete ein Brief im Briefkasten.
Ein alter Freund.
Ein Foto.
Walter und Gerda, lachend, tanzend im Regen, 1974.

Andrea zeigte es ihm.
Er betrachtete es lange.

„Kenn ich sie?“, fragte er.
„Sie sieht aus wie jemand, den ich einmal vermisst habe.“

Andrea legte den Kopf auf seine Schulter.

„Du hast sie nicht nur vermisst.
Du hast sie geliebt.“

Walter sagte nichts.
Aber seine Augen wurden glasig.
Und seine Hand streichelte langsam Fietes Fell.

Später am Abend schrieb Andrea in ihr Erinnerungsheft:
„Manche Tage vergisst der Kopf.
Aber das Herz erinnert sich.
Und manchmal reicht das.“

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