Der letzte Spaziergang | Er vergaß fast alles im Leben – doch nie den Hund, der ihn heimführte

Teil 9: Wenn der Hund nicht mehr kann – und wer dann führt

Es war ein leiser Wandel.
Kein plötzliches Ereignis, sondern ein allmähliches, stilles Nachlassen.

Fiete schlief mehr.
Er ging langsamer.
Die Treppen schaffte er nicht mehr ohne Pause.
Und beim Spaziergang blieb er oft stehen, als müsse er erst fragen, ob sich der Weg noch lohnt.

Walter bemerkte es zuerst.
Nicht mit Worten – sondern mit Gesten.
Er ging langsamer. Passte sich an.
Und manchmal sagte er:
„Na, mein Junge… diesmal bin ich schneller.“

Andrea sah es mit schwerem Herzen.
Der Hund, der ihren Vater durch den Nebel geführt hatte, tappte nun selbst am Rand der Kraft.

Der Tierarzt kam ins Haus.
Ein freundlicher Mann mit grauem Bart und ruhiger Stimme.
Er streichelte Fiete, tastete das Herz ab, hörte lange.

Dann das, was Andrea fürchtete.

„Er ist alt. Sehr alt. Das Herz ist schwach. Die Gelenke schmerzen.
Aber er hat keinen akuten Schmerz. Noch nicht.
Er will nur… nicht mehr alles müssen.“

Walter sah den Arzt an.

„Also keine Spritze? Noch nicht?“

Der Tierarzt schüttelte den Kopf.
„Nein. Noch nicht. Aber vielleicht bald.“

In der Nacht wachte Walter auf.
Er tastete nach der Leine am Bettpfosten.
Sie hing nicht mehr dort.

Andrea hatte sie weggelegt.
Weil Fiete sie nicht mehr brauchte.
Weil Fiete nicht mehr führte.
Weil jetzt jemand anders führen musste.

Walter stand trotzdem auf.
Ging ins Wohnzimmer.
Fiete lag auf der Decke, hob mühsam den Kopf.

Walter setzte sich zu ihm auf den Boden.
Stützte sich mit der Hand ab.
„Du hast mich geführt, mein Junge.
Jetzt bleib ich bei dir.“

Am nächsten Morgen war Walter still.
Er zog sich an wie immer.
Aber die Leine nahm er nicht.

Andrea beobachtete ihn.
Dann reichte sie ihm ihren Arm.

„Komm, Papa. Heute geh ich mit dir.
Und ich weiß den Weg.“

Er sah sie an – lange.
Dann nickte er.
Und sie gingen.

Ohne Hund.

Sie kamen bis zur Bank.
Walter setzte sich.
Sein Blick suchte das leere Stück Wiese, auf dem Fiete sonst lag.
Die Leere tat weh.
Aber er sagte nichts.

„Weißt du, Papa“, begann Andrea, „Fiete hat dich so oft zurückgebracht.
Und wenn er bald nicht mehr kann…
Dann bring ich dich zurück.“

Walter nickte.
Langsam.
Dann legte er die Hand auf ihre.

„Ich hoffe, du hast gute Pfoten.“

In der darauffolgenden Woche veränderte sich etwas.
Walter fragte nicht mehr nach dem Datum.
Nicht nach seinem Namen.
Aber er fragte jeden Morgen:
„Wie geht’s Fiete heute?“

Und Andrea antwortete ehrlich.
„Er ist müde.“
„Er frisst wenig.“
„Aber er ist noch bei uns.“

Eines Abends saßen sie zu dritt im Wohnzimmer.
Fiete auf seiner Decke.
Walter im Sessel.
Andrea auf dem Boden, mit dem alten Erinnerungsheft.

Sie las.

„Das war der Tag am Meer, weißt du noch?“
Sie hielt das Foto hoch – Walter mit den Füßen im Wasser, Fiete daneben.

Walter sah es lange an.

Dann flüsterte er:

„Wenn er geht…
kann ich mich dann noch erinnern?
Oder nimmt er alles mit?“

Andrea schüttelte den Kopf.

„Er bleibt. In dir.
In mir.
Und in dem, was wir geschrieben haben.“

Am nächsten Morgen stand Walter früher auf als sonst.
Er ging in Fietes Ecke.
Der Hund hob den Kopf, langsam, schwach.

Walter kniete sich zu ihm.
„Heute gehen wir noch mal. Nur kurz.“

Andrea wollte protestieren.
Doch der Blick ihres Vaters war fest.
Und Fiete – als hätte er es verstanden – stemmte sich auf die Beine.

Sie gingen.
Ganz langsam.
Einmal um den Garten.
Dann wieder rein.

Es war der letzte Spaziergang.

Zwei Tage später kam der Tierarzt erneut.
Diesmal ohne Tasche.
Nur mit leisen Worten und einem klaren Blick.

Andrea saß auf dem Boden.
Walter hielt Fietes Kopf in den Händen.
„Danke“, sagte er.
„Danke, dass du mich nicht vergessen hast, als ich mich vergaß.“

Der Hund hob die Augen ein letztes Mal.
Dann senkte sich der Kopf.

Es war still.
So still, wie nur die ganz großen Dinge gehen.

Andrea weinte.
Walter nicht.
Er saß nur da.
Lang.
Regungslos.

Dann sagte er:
„Ich glaube, ich weiß jetzt, wie Liebe geht.
Man bleibt.
Auch wenn einer geht.“

In der folgenden Nacht stand Walter auf.
Ging barfuß durchs Haus.
Setzte sich auf die Bank im Flur.

Andrea fand ihn dort.
Sie setzte sich neben ihn.
Er sagte:
„Ich hab ihn rufen hören.“

„Fiete?“

Walter nickte.
„Ich glaube, er will, dass ich noch ein Stück mitgehe.
Nicht gleich. Nur ein Stück.
Durch die Erinnerung.
Und du… du bleibst bei mir, ja?“

Andrea nahm seine Hand.
„Bis zum letzten Schritt.“

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