Der letzte Spaziergang | Er vergaß fast alles im Leben – doch nie den Hund, der ihn heimführte

Teil 10: Der letzte Spaziergang – und was bleibt

Es war still an diesem Morgen.
Nicht still im Sinne von „kein Laut“, sondern still im Herzen.
Der Frühling hatte begonnen, aber der Wind war noch kühl.
Walter saß angezogen auf seinem Bett, die Hände im Schoß gefaltet.
Die Leine hing noch immer am Haken neben dem Foto von Gerda.

Doch der Hund war nicht mehr da.
Nur die Erinnerung an ihn – warm wie ein alter Pullover.

Andrea trat ein.
„Papa, willst du raus heute?“
Er sah sie an.
„Ja. Ich glaube, heute ist ein guter Tag.“

Sie gingen langsam.
Wie immer – durch das Viertel, am alten Kiosk vorbei, durch den kleinen Park.
Walter hielt sich an Andreas Arm fest.
Er sagte wenig.

Am Platz unter den Kastanien blieb er stehen.
Setzte sich auf die Bank.
Sein Atem ging ruhig.
Sein Blick war weit.

„Weißt du, was ich heute geträumt hab?“, flüsterte er.

Andrea schüttelte den Kopf.

„Ich bin am Meer entlanggelaufen. Und da war Fiete. Und Gerda.
Beide haben auf mich gewartet.
Sie sind nicht nähergekommen.
Aber ich wusste: Ich werde sie wiedersehen.“

Ein paar Minuten vergingen.

Dann sagte er:
„Ich glaube, ich bin müde, Andrea.
Nicht nur heute. Sondern müde vom Vergessen.
Es ist wie ein Nebel, der nicht mehr weggeht.
Und manchmal frag ich mich: Wozu soll ich noch bleiben, wenn ich nicht mehr weiß, wer ich bin?“

Sie nahm seine Hand.
„Du bist mein Vater.
Und du bist geblieben, auch als alles schwer wurde.
Das ist genug.“

Walter lächelte schwach.

„Manchmal ist der Hund der Letzte, der uns noch erkennt.“
Er sah nach unten.
„Jetzt, wo er nicht mehr da ist… wirst du mich erinnern müssen.“

Andrea nickte.
„Ich werde es.
Mit Bildern, mit Worten – und mit der Liebe, die du uns allen beigebracht hast.“

Sie gingen zurück.
Langsam, wie zwei alte Freunde.
Walter hielt sich diesmal nicht an Andrea fest – sondern ging aufrecht, Schritt für Schritt.

„Ich will noch einmal den Flur entlanglaufen“, sagte er.
„Ohne zu stolpern.
Wie früher.“

Und er tat es.
Ganz bis zum Ende des Flurs, wo die Wand war – und das Bild von Fiete hing, in einem kleinen Holzrahmen.

Er stellte sich davor.
Hob die Hand.
Berührte das Glas.

„Danke, mein Junge.
Du hast mich nach Hause gebracht.“

In der Nacht war es ruhig.

Walter schlief früh ein.
Andrea saß noch lange im Sessel neben seinem Bett, das Erinnerungsheft auf dem Schoß.

Die Seiten waren voll.
Mit Bildern.
Mit Geschichten.
Mit all den Tagen, die Walter nicht mehr greifen konnte – aber die sie für ihn bewahrt hatte.

Irgendwann schlief auch sie ein.

Am frühen Morgen ging alles schnell.
Walter atmete schwer.
Sein Blick war weit weg – aber friedlich.

Andrea rief den Arzt, hielt seine Hand.

„Ich hab dich lieb, Papa.“

Er sagte nichts mehr.
Doch im letzten Moment, kurz bevor sein Atem ruhiger wurde, hob er zwei Finger.
Zeigte auf die Leine am Haken.
Und flüsterte:

„Fiete?“

Dann schloss er die Augen.

Die Beerdigung war schlicht.
Nur Andrea, zwei Nachbarn, ein alter Freund vom Fußballverein – und eine leere Leine, die Andrea in den Händen hielt.

Sie hatte Walters Wunsch erfüllt:
Eine kleine Urne.
Beigesetzt am Rand des Parks, ganz in der Nähe der Bank unter den Kastanien.
Ein Platz, den er kannte.
Den Fiete kannte.
Den sie kannte.

Ein kleines Holzschild mit seinem Namen.
Und darunter:

„Wer den Weg vergisst, braucht jemanden, der ihn kennt.“

In den Wochen danach war das Haus still.
Zu still.

Andrea hatte überlegt, ob sie bleiben sollte.
Doch irgendwann wurde ihr klar:
Manche Orte bewahrt man besser im Herzen.
Nicht in Räumen.

Sie packte ihre Sachen.
Aber das Erinnerungsheft blieb auf dem Tisch liegen.
Offen.
Auf der letzten Seite.

Dort hatte sie einen Satz geschrieben:

„Ich erinnere dich – damit du weitergehst, wo ich zurückbleibe.“

Am Tag ihres Umzugs kam sie noch einmal am Park vorbei.
Sie setzte sich auf die Bank.
Das Frühjahr war jetzt da, mit hellem Licht, dem Duft nach nassem Gras.

Ein kleiner Junge kam mit einem Welpen vorbei.
Der Hund schnüffelte, zog an der Leine.

Andrea lächelte.
Dann sah sie zum Himmel.

„Er war kein besonderer Hund“, sagte sie leise.
„Aber er hat meinen Vater gerettet.
Und irgendwie auch mich.“

Sie stand auf.
Ging den alten Weg zurück.
Schritt für Schritt.
Wie Walter.
Wie Fiete.
Wie das Leben selbst.

Langsam.
Aber nie allein.

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