🔹 Teil 4 – Ein unerwarteter Besuch
Die Sonne stand tief über Altdorf, als Frieda zum ersten Mal wieder ihre Pfoten über den kleinen Hof schleppte. Jeder Schritt war noch vorsichtig, als würde sie auf Glas laufen. Doch ihre Augen hatten diesen Glanz zurück – jenes stille Feuer, das Maria sofort erkannte.
„Nicht rennen“, murmelte Maria, obwohl sie wusste, dass Frieda dazu gar nicht in der Lage war.
Die Hündin schnupperte am Apfelbaum, dann setzte sie sich langsam auf den Platz, an dem sie früher gern gelegen hatte. Der Wind rauschte leise durch die Blätter, ein paar Vögel zwitscherten. Es war wieder Frühling, wirklich Frühling – nach einem langen, dunklen Winter.
Maria setzte sich neben sie auf den Holzstuhl, die Hände im Schoß gefaltet. In Gedanken war sie noch immer bei der Klinikrechnung. Auch wenn viel geholfen wurde – ganz beglichen war sie noch nicht. 146 Euro offen. Für manche nichts, für sie: ein Monat Medikamente oder zwei Stromabschläge.
Aber Frieda war da. Und atmete.
Und manchmal ist das alles, was zählt.
—
Gegen Nachmittag klingelte es an der Tür.
Maria runzelte die Stirn. Besuch war selten geworden in den letzten Jahren. Früher, als sie noch auf Station war, hatte sie Kolleginnen, mit denen sie Kaffee trank. Aber mit der Rente… blieben nur wenige übrig. Die meisten waren weggezogen. Oder verstummt.
Als sie öffnete, stand ein junger Mann vor ihr. Anfang dreißig, Bartstoppeln, schüchternes Lächeln. In der Hand hielt er eine braune Stofftasche.
„Hallo… Frau Voss? Ich bin Jonas. Jonas Schilling. Mein Vater war früher bei Ihnen auf Station.“
Maria brauchte einen Moment. Dann erinnerte sie sich vage an einen alten Herrn mit COPD, der immer Gedichte in sein Notizbuch schrieb. Herr Schilling. Zimmer 207.
„Sie haben sich um ihn gekümmert. Ich… war damals oft bei den Besuchen dabei.“
Maria nickte langsam. „Ich erinnere mich.“
„Ich hab von Frieda gelesen. Also… meine Mutter hat es mir geschickt. Sie wohnt noch in der Nachbarschaft. Ich wollte das hier vorbeibringen.“ Er reichte ihr die Tasche.
Maria öffnete sie vorsichtig. Darin: eine Schachtel Hundekekse, eine kleine Tüte mit Leberwurst-Snacks – und ein Umschlag.
„Da ist etwas drin… ein kleiner Beitrag. Für Friedas Pflege. Ich weiß, es ist nicht viel… aber manchmal… hilft auch wenig.“
Maria war sprachlos. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
„Sagen Sie Frieda, dass sie sich beeilen soll, wieder gesund zu werden. Ich hab selbst einen alten Hund – Max. Und ich weiß, wie weh das alles tut.“
Er winkte kurz. Dann ging er.
Maria stand lange in der Tür. Frieda hatte sich inzwischen in den Schatten gelegt. Als Maria sich bückte und über ihren Kopf strich, war da ein leises Winseln – nicht vor Schmerz, sondern aus Müdigkeit. Eine sanfte Müdigkeit, wie nach einem langen Spaziergang.
—
Am Abend öffnete Maria den Umschlag. Es war ein Fünfzig-Euro-Schein darin. Und ein Zettel. Handschriftlich.
„Für Frieda. Und für die Frau, die meinem Vater mehr Frieden gebracht hat, als jedes Medikament.“
— Jonas Schilling
Maria legte den Zettel neben das Fotoalbum auf dem Wohnzimmertisch. Dann setzte sie sich in den Lehnstuhl und schloss die Augen.
Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr ganz so allein.
—
Am nächsten Tag kam Lena vorbei.
Nicht als Tierarzthelferin. Sondern als Besucherin. In Jeans, mit einem Stoffbeutel über der Schulter, aus dem das Ende eines alten Hundefachsachbuchs ragte.
„Ich wollte sehen, wie es ihr geht.“
Maria ließ sie eintreten. Frieda hob den Kopf, als sie Lena erkannte, und wedelte müde.
„Sie ist ruhiger geworden“, sagte Maria. „Schläft viel. Aber sie frisst. Und sie schaut wieder.“
Lena kniete sich neben den Hund. „Sie wirkt gut. Wir beobachten weiter, aber ich denke… sie hat das Schlimmste überstanden.“
Dann stand sie auf, holte eine kleine weiße Dose aus ihrer Tasche.
„Das hier ist eine Wundsalbe – speziell für ältere Hunde. Gegen Spannungen an der Naht.“
„Was kostet…?“
Lena winkte ab. „Geschenkt. Vom Hersteller. Sie wissen, dass ihre Sachen bei uns im Wartezimmer ausliegen.“
Maria nickte langsam. Es war ihr unangenehm – und zugleich rührte es sie tief.
„Ich hab noch was mitgebracht“, sagte Lena dann, zog das Buch aus dem Beutel. Hunde im Alter begleiten stand auf dem Umschlag. Ein Fachbuch, aber liebevoll geschrieben, mit Fotos von grauen Schnauzen und müden Augen.
„Darf ich es dir lassen? Ich meine… wenn du willst, dass ich du sage.“
Maria lächelte leise. „Ich glaube, wir haben das längst getan.“
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Am Abend las Maria lange in dem Buch. Viele Dinge wusste sie schon – aber manches überraschte sie. Zum Beispiel, dass alte Hunde oft Schmerzen verschweigen. Oder dass das Lecken bestimmter Stellen auf inneren Druck hinweisen kann.
Sie war keine Tierärztin. Aber sie war Krankenschwester. Und Liebe war manchmal die beste Medizin, die man haben konnte.
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Spät in der Nacht trat Maria noch einmal in den Garten.
Frieda stand am Apfelbaum. Allein. Der Mond warf lange Schatten.
Maria trat zu ihr, sagte nichts. Frieda legte ihre Schnauze gegen Marias Bein. Dann setzten sie sich gemeinsam auf den Rasen. Kein Wort, kein Ton. Nur das leise Rascheln der Nacht.
Maria dachte an Jonas. An Lena. An Herrn Klein, der neulich den Müll hereingeholt hatte, als sie in der Klinik war.
Und sie wusste: Vielleicht war sie nicht mehr die, die sie früher war. Nicht mehr stark. Nicht mehr schnell.
Aber sie war noch immer jemand.
Und Frieda war noch da.