Der letzte Spaziergang mit Frieda | Ein letzter Spaziergang, ein letzter Blick – und die Liebe, die trotzdem blieb

🔹 Teil 5 – Der Brief im Bücherregal

Der Sonntag begann mit Regen. Sanft, beständig, wie ein leiser Takt auf dem alten Fensterbrett. Maria saß in ihrem Morgenmantel am Küchentisch, eine dampfende Tasse Malzkaffee vor sich, Frieda zusammengerollt auf der Decke neben dem Heizkörper. Die Hündin schlief tief, doch ihr Atem ging gleichmäßig. Ein gutes Zeichen.

Maria blätterte in der Werbebeilage des Wochenblatts, aber ihre Gedanken schweiften ab. Der Besuch von Jonas, Lenas Salbe, das Foto im Wartezimmerkorb — es war, als hätte Friedas Krankheit eine Tür aufgestoßen. Eine, die lange verschlossen gewesen war. Die Nachbarn, das Dorf, sogar fremde Menschen, sie alle waren plötzlich Teil ihres Lebens geworden. Nicht laut, nicht aufdringlich. Aber da.

Als sie das Blatt zur Seite legte, fiel ihr Blick auf das alte Bücherregal an der Wand. Es war dunkel gebeizt, aus schwerem Eichenholz, mit kleinen Messinggriffen an den Schubladen unten. Ihr Mann hatte es 1982 auf dem Flohmarkt gekauft und eigenhändig restauriert. Seitdem hatte es jedes Zuhause mitgetragen, jeden Umzug, jedes Weihnachtsfest. Es war mehr als nur ein Regal.

Maria stand auf, trat näher. Zwischen den Bildbänden und Pflegehandbüchern stach ihr ein hellblauer Umschlag ins Auge. Vergilbt an den Rändern, leicht eingeklemmt zwischen zwei Buchrücken. Sie zog ihn vorsichtig hervor.

An Maria, stand in krakeliger Handschrift auf der Vorderseite. Kein Absender, kein Datum.

Ihr Herz klopfte schneller. Sie setzte sich wieder an den Tisch, drehte den Umschlag in den Händen. Dann öffnete sie ihn – vorsichtig, als könnte der Inhalt zerfallen.

Darin lag ein einzelnes Blatt. Und beim ersten Blick wusste sie, von wem es war.

Günther. Ihr Mann. Die Schrift war kantig, aber vertraut. Der Brief war nie abgeschickt worden – wahrscheinlich nie fertig geworden. Vielleicht war er zwischen die Bücher gerutscht, vergessen, als er krank wurde.

Sie begann zu lesen:


Meine liebe Maria,

ich weiß nicht, ob ich diesen Brief jemals abschicken werde. Wahrscheinlich nicht. Aber manchmal muss man Dinge aufschreiben, wenn man sie nicht mehr sagen kann.

Ich sehe, wie du dich sorgst. Wie du morgens meine Tabletten richtest, mir das Brot zu weich schneidest, obwohl ich dich bitte, es einfach zu lassen. Und ich sehe auch, wie du nachts leise weinst, wenn du denkst, ich schlafe.

Ich will dir danken. Für alles. Für das Leben, das wir hatten. Für die Jahre, in denen du mein Hafen warst. Ich habe nie viel geredet, das weißt du. Aber ich habe gesehen. Alles. Deine Stärke. Deinen Humor. Deine Art, nie aufzugeben.

Wenn ich gehe – und ich glaube, das wird bald sein – möchte ich, dass du weitermachst. Dass du dich nicht in Erinnerungen verkriechst wie in einen zu engen Mantel. Hol dir einen Hund. Einen, der dich zwingt, rauszugehen. Einen, der dich zum Lächeln bringt, wenn du allein bist. Ich weiß, das klingt kitschig. Aber vielleicht… ist es genau das, was du brauchst.

Ich liebe dich. Auch dann noch, wenn du diesen Brief vielleicht nie liest.

Dein Günther.


Maria saß lange da. Der Regen trommelte sanft weiter, doch in ihr war es still geworden. Friedlich still. Ihre Finger strichen über das Papier, als könnten sie ihn noch einmal spüren. Seine Stimme. Seine Wärme.

Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen, legte ihn zurück in den Umschlag – und dann in das kleine Fach in ihrer Kommode, wo sie wichtige Dinge aufbewahrte: ihre Heiratsurkunde, die Geburtsanzeige ihrer Schwester, und ein altes Kinderfoto von sich selbst, barfuß im Gras.

Am Nachmittag holte sie das Halstuch hervor, das Frieda früher nur an besonderen Tagen getragen hatte – dunkelgrün, mit kleinen Sonnenblumen darauf. Sie band es ihr vorsichtig um, dann gingen sie hinaus. Nicht weit, nur bis zur Bank gegenüber der Kirche, doch es war der erste Spaziergang seit der OP.

Frieda schnupperte am Wegesrand, machte kleine Schritte. Der Himmel war noch immer grau, aber zwischen den Wolken lag ein Hauch von Licht.

„Weißt du was“, sagte Maria leise, „ich glaube, du warst sein Geschenk an mich.“

Frieda sah sie kurz an, dann legte sie sich langsam neben die Bank. Maria streichelte ihr über den Rücken.

Wenig später kam Frau Weber die Straße entlang. Witwe, 78, mit kurzem Haar und scharfer Stimme. Man kannte sich vom Sehen, hatte sich aber nie wirklich unterhalten.

„Na, Frau Voss… da sitzt ja das tapfere Gespann.“ Sie blieb stehen, musterte Frieda. „Man hört ja so einiges. Schön, dass es ihr besser geht.“

Maria lächelte. „Sie kämpft.“

Frau Weber zögerte. Dann setzte sie sich neben sie auf die Bank. „Mein Kater ist vor einem halben Jahr gegangen. Nierenversagen. Ich hab’s nicht mal kommen sehen.“

Sie sagte es ohne Wehmut, fast sachlich. Aber ihre Hände, die zitterten ein wenig.

„Es tut weh“, sagte Maria.

Frau Weber nickte. Dann griff sie in ihre Einkaufstasche. „Ich hab Leberstangen dabei. Für die Nachbarshunde. Möchten Sie?“

Frieda hob sofort den Kopf.

Und so saßen sie dort – zwei ältere Frauen, ein alter Hund, ein Päckchen Leberstangen, und die leise Ahnung, dass Freundschaft manchmal einfach beginnt, wenn niemand mehr damit rechnet.

Am Abend legte Maria das Halstuch behutsam auf die Kommode, neben Günthers Brief.

Sie stand lange davor.

Dann sagte sie leise: „Ich habe deinen Rat befolgt.“

Frieda lag bereits im Körbchen und schlief. Doch als Maria das Licht löschte, hörte sie ein leises Klopfen auf dem Boden – der Schwanz, der sich zweimal bewegte.

Ein Gruß. Ein Dank.

Ein Versprechen.

Scroll to Top