🔹 Teil 6 – Der Sonntag, an dem alles anders war
Der Morgen begann friedlich. Zu friedlich.
Maria hatte schlecht geschlafen, doch als sie endlich aufwachte, war das erste, was sie hörte – nichts. Kein Kratzen an der Tür. Kein leises Winseln. Kein vertrautes Tap-tap der Krallen auf dem Holzfußboden.
Sie richtete sich ruckartig auf.
„Frieda?“
Stille.
Sie schob die Decke zurück, eilte barfuß ins Wohnzimmer. Das Körbchen lag da, ordentlich, das Kissen glattgedrückt – leer.
„Frieda!“ rief sie jetzt lauter, mit zittriger Stimme.
Da hörte sie ein leises Kratzen von der Küche.
Frieda saß dort. Ganz still. Der Kopf gesenkt, der Körper leicht schwankend. Neben ihr: eine Lache Urin. Und Blut.
Maria erstarrte. Dann kniete sie sich neben die Hündin, berührte vorsichtig ihren Rücken. Die Muskeln zuckten, der Atem ging stoßweise.
„Nein… bitte nicht heute. Nicht jetzt.“
Sie zitterte. Nicht nur vor Angst. Auch vor Wut – auf sich, auf das Alter, auf die Hilflosigkeit.
Sie griff nach dem Telefon, wählte mit zitternden Fingern die Kliniknummer.
—
Lena war zufällig im Dienst.
„Ich komme“, sagte sie. „Bleiben Sie ruhig. Ich bin in 15 Minuten da.“
Maria wischte den Boden. Nicht wegen des Schmutzes – sondern aus Scham, aus Ohnmacht. Frieda hatte sie nie beschämt. Und nun… dieses letzte bisschen Würde, so zerbrechlich wie ein Glas.
Als Lena kam, trug sie keinen weißen Kittel. Nur Jeans, Wollpullover und Mitgefühl.
„Das kann ein Rückfall sein“, sagte sie nach kurzem Blick. „Innere Nachblutung vielleicht. Oder die Naht…“
Sie tastete Friedas Bauch, prüfte die Schleimhäute, sah Maria dann ernst an.
„Wir müssen sie mitnehmen.“
—
Die Fahrt in die Klinik war wie ein Tunnel. Maria sprach kein Wort. Frieda lag hinten im Kofferraum, eingewickelt in ihre Lieblingsdecke, die Augen halb geschlossen.
Im Empfangsbereich ging alles schnell. Lena sprach mit dem Tierarzt, ein junger Kollege kam mit der Trage. Frieda wurde hineingeschoben, wieder – wie beim letzten Mal – unter das kalte Licht der Behandlungsräume.
Maria blieb allein zurück. Sie setzte sich auf dieselbe Bank wie damals. Dieselbe Uhr an der Wand. Dieselber sterile Geruch. Aber diesmal war etwas anders.
Diesmal war Maria bereit.
—
Nach zwanzig Minuten kam Lena zurück. Ihre Augen verrieten mehr als ihre Worte.
„Es sieht nicht gut aus.“
Maria nickte. „Ich weiß.“
„Sie hat Blut im Bauchraum. Wahrscheinlich ein Gefäß, das geplatzt ist. Wir könnten nochmal operieren… aber…“
Sie sagte es nicht zu Ende. Musste sie auch nicht.
„Ich möchte sie sehen.“
—
Der Raum war still, nur das Brummen des Infusionsgeräts durchbrach die Ruhe. Frieda lag auf der weichen Unterlage, an ihrem Bein ein Zugang. Die Augen halb offen, die Atmung flach.
Maria setzte sich zu ihr. Lena ließ sie allein.
Sie nahm die Pfote der Hündin in ihre Hand. Kühl. Aber lebendig.
„Weißt du noch“, flüsterte sie, „wie du das erste Mal in meinem Flur standest? Wie du so getan hast, als wäre alles dir… die Decke, der Sessel, mein Herz?“
Ein schwaches Zucken.
„Du hast mir beigebracht, dass es okay ist, allein zu sein. Solange man jemanden hat, der wartet.“
Ihre Stimme brach.
„Und jetzt… jetzt wartest du auf mich. Ich weiß es. Aber ich bin noch nicht so weit. Und du… du bist müde, nicht wahr?“
Frieda öffnete die Augen. Nur einen Moment. Doch in diesem Blick lag alles: Vertrauen. Dank. Und die Erlaubnis zu gehen.
—
Lena trat wieder ein. „Möchten Sie, dass wir… es sanft machen?“
Maria nickte.
„Bitte. Bleiben Sie dabei.“
—
Die Spritze war vorbereitet. Die Flüssigkeit klar. Maria streichelte Friedas Kopf, während Lena sanft den Zugang prüfte.
„Ich bin da“, sagte Maria.
„Du musst nicht kämpfen. Ich werde nicht vergessen. Kein einziges Bellen, kein einziges Lecken meiner Hand. Nie.“
Die Injektion war ruhig. Friedas Atmung wurde langsamer. Dann noch ein Heben der Flanke – und Stille.
Nur die Uhr tickte weiter.
—
Maria blieb lange sitzen. Lena sagte nichts, reichte ihr später ein Taschentuch, dann eine Tasse Tee.
Es regnete draußen. Ein feiner, durchsichtiger Regen.
„Sie war besonders“, sagte Lena leise.
Maria lächelte müde. „Sie war mein Zuhause.“
—
Am Nachmittag ging Maria zu Fuß nach Hause. Langsam. Jeder Schritt schien schwerer zu werden, je näher sie kam.
Der leere Flur. Die Leine am Haken. Die Futterschale.
Sie setzte sich auf den Boden, an den Platz, wo das Körbchen gestanden hatte.
Sie weinte. Still. Ohne Schluchzen, ohne Drama.
Nur Tränen, die kamen, weil sie kamen mussten.
—
Am Abend läutete es.
Draußen stand Jonas. Er hatte gehört, was passiert war. Von seiner Mutter. Und vom Bäcker, der Lena zufällig getroffen hatte.
„Ich hab das hier“, sagte er nur, und reichte ihr einen Schuhkarton.
Darin: ein gerahmtes Foto von Frieda – das Bild aus dem Wartezimmerkorb. Darunter eingraviert:
„Danke für deine Zeit bei uns. 2009–2023“
Maria hielt den Rahmen fest an sich gedrückt.
„Woher…?“
„Ein paar Leute aus dem Ort haben’s organisiert. Wir dachten, du sollst wissen: Frieda war nicht nur dein Hund. Sie war Teil von uns allen.“
—
Später, als der Regen nachließ, stellte Maria den Rahmen auf die Fensterbank. Daneben ein Teelicht.
Sie setzte sich in ihren Lehnstuhl, deckte sich zu.
Und murmelte:
„Gute Nacht, mein Mädchen. Morgen erzähl ich dir vom Apfelbaum.“