🔹 Teil 7 – Das letzte Geschenk
Die Tage danach vergingen langsam, als würde die Zeit selbst trauern.
Maria tat, was getan werden musste: Sie wusch Friedas Decke, räumte das Körbchen weg, kehrte das Haar vom Wohnzimmerboden. Doch jeder Handgriff war schwer. Alles erinnerte an sie. Die Leine an der Garderobe, das leere Glas mit den Leberstangen, der Fleck am Küchenboden, den sie nie ganz entfernen konnte – als hätte Frieda ein Stück von sich zurückgelassen.
Doch was Maria am meisten vermisste, war das Geräusch. Kein tapsen mehr auf dem Boden. Kein zufriedenes Seufzen abends. Kein Schnarchen im Schlaf.
Nur Stille.
Eine Stille, die schnitt.
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Am Freitag kam Post.
Ein großer Umschlag, adressiert von Hand, mit echter Briefmarke. Maria öffnete ihn vorsichtig.
Im Inneren lag ein kleiner Zettel. Und darunter: ein Gutschein. Handschriftlich ausgefüllt. Mit Stempel der Tierklinik.
„Ein letzter Gruß von Frieda: Für eine neue Freundschaft, wenn dein Herz wieder Platz hat.“
– Gutschein über die Erstuntersuchung und ein Jahr Vorsorge für einen Tierheimhund – ausgestellt auf den Namen Maria Voss.
Maria las es zweimal. Dann sah sie auf den kleinen Zettel:
„Frieda hat Spuren hinterlassen. Vielleicht darf jemand Neues darin laufen.“
– In Liebe, Lena
Maria faltete das Papier und drückte es an die Brust. Tränen stiegen in ihr auf. Nicht aus Trauer. Sondern aus diesem seltsamen, bittersüßen Schmerz, der entsteht, wenn man losgelassen hat – aber nicht vergessen.
—
Am nächsten Tag fuhr sie mit dem Bus in die Stadt.
Der Himmel war bedeckt, doch es regnete nicht. Am Stadtrand, neben einer alten Mühle, lag das Tierheim. Maria war seit Jahrzehnten nicht mehr dort gewesen. Es war Friedas altes Heim, damals noch in einem maroden Bau mit kaltem Betonboden. Heute stand ein Neubau daneben, freundlich, mit hellem Holz und Glasfront.
Sie meldete sich am Empfang.
Die junge Frau hinter dem Tresen lächelte, als sie den Namen hörte. „Ach… Sie sind Maria. Lena hat von Ihnen gesprochen. Wir haben… jemanden, den sie Ihnen gern zeigen wollte.“
Maria folgte ihr durch einen Gang. Die Geräusche waren gedämpft – vereinzeltes Bellen, das Kratzen von Krallen auf Linoleum, der leise Klang eines Radios aus dem Personalzimmer.
Dann öffnete die Mitarbeiterin eine Glastür.
„Er ist schon älter. Zehn Jahre. Ausgesetzt worden. Niemand wollte ihn – bis jetzt.“
Maria trat einen Schritt vor.
Im Gehege lag ein mittelgroßer Hund. Etwas pummelig, mit zersaustem Fell in Rotbraun. Ein Ohr stand, das andere klappte schief zur Seite. Als er Maria sah, hob er den Kopf – langsam, vorsichtig. Die Augen waren bernsteinfarben. Wunderschön. Und müde.
Der Hund blieb liegen. Aber sein Schwanz zuckte. Erst einmal. Dann zweimal.
Maria trat näher ans Gitter. „Na du?“
Kein Bellen. Kein Knurren. Nur ein leises, kehliges Laut, fast wie ein seufzendes Ja.
„Er heißt Max“, sagte die Mitarbeiterin. „Aber Sie dürfen ihm natürlich einen neuen Namen geben.“
Maria schwieg.
Dann lächelte sie.
—
Zwei Tage später zog Max bei ihr ein. Oder, wie sie es Lena sagte: Er hat den Platz eingenommen, den Frieda warm gehalten hat.
Es war nicht dasselbe. Sollte es auch nicht sein.
Max war anders. Lauter. Ein bisschen stur. Und sehr hungrig. Er liebte es, unter dem Tisch zu liegen und sich zu kratzen, bis das ganze Wohnzimmer bebte. Er hatte Angst vor Besen, aber liebte es, gebürstet zu werden. Und er schnarchte noch lauter als Frieda.
Aber wenn Maria abends auf dem Sofa saß, legte er seinen Kopf auf ihren Oberschenkel. Ganz sanft. Und wartete, bis ihre Hand ihn fand.
—
Eines Nachmittags, beim Aufräumen der Küche, fand Maria eine alte Dose. Weißblech, mit verblasstem Muster. Darin lag ein zusammengefaltetes Tuch.
Sie zog es hervor.
Friedas Halstuch. Das mit den Sonnenblumen.
Sie saß lange da, hielt es in den Händen.
Dann nahm sie es, ging ins Wohnzimmer und band es Max locker um den Hals.
Er schüttelte sich kurz – dann ließ er es einfach hängen.
Maria lachte leise. Und murmelte: „Nicht, dass du jetzt denkst, du bist Frieda.“
Max blinzelte. Dann legte er sich auf den Teppich, genau dort, wo früher das Körbchen stand.
Und es fühlte sich richtig an.
—
Am Sonntag kam Lena vorbei.
Sie brachte Kuchen mit – Apfelstreusel – und ein kleines Päckchen mit Tabletten für Max’ Gelenke. „Nur zur Vorsorge“, sagte sie. „Er ist ja kein Jungspund mehr.“
Sie saßen auf dem Balkon. Max lag zu ihren Füßen, den Kopf auf Lenas Schuh.
„Ich war nicht sicher, ob ich das nochmal kann“, sagte Maria. „Ein Tier verlieren. Noch einmal dieses… Zerbrechen.“
Lena nickte. „Manchmal ist der Schmerz der Preis für alles, was davor schön war.“
Maria blickte auf Max.
„Dann zahle ich ihn gern.“
—
Später, als Lena gegangen war, setzte sich Maria an den Tisch, zündete ein Teelicht an. Daneben stellte sie den Bilderrahmen von Frieda. Und legte das Halstuch daneben.
Max trat heran, sah kurz auf das Foto.
Dann leckte er Marias Hand.
Und sie wusste: Das war Friedas letztes Geschenk.
Nicht der Schmerz. Sondern die Fähigkeit, wieder zu lieben.