🔹 Teil 9 – Die Lesestunde im Tierheim
Es roch nach altem Gras, Desinfektionsmittel und einer Spur Hoffnung.
Maria trat langsam durch das große Holztor des Tierheims Landshut. In der einen Hand trug sie eine Stofftasche mit zwei Büchern und einer Thermoskanne Tee, in der anderen: Max’ Leine. Der Hund schritt stolz neben ihr, das Sonnenblumenhalstuch frisch gewaschen, seine Ohren wippten leicht im Takt seiner Schritte.
„Na, dann zeig mal, wo’s langgeht“, sagte sie leise. Max blinzelte, als hätte er den Satz verstanden.
Im Foyer wartete bereits eine junge Frau mit dunklem Pferdeschwanz – Sabrina, eine der Tierpflegerinnen. Sie begrüßte Maria mit einem Lächeln, das keine Routine war, sondern warm wie ein Fensterschein in der Dämmerung.
„Schön, dass Sie da sind. Die Hunde kennen Ihre Stimme inzwischen schon vom Flur.“
Maria lachte leise. „Ich hab nie besonders laut gesprochen.“
„Gerade deshalb hören sie Ihnen gern zu.“
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Der Leseraum war eigentlich nur ein umgebauter Futterlagerraum mit einer alten Couch, einem weichen Teppich und mehreren Hundebetten. Durch das große Fenster fiel mildes Licht. Fünf Hunde lagen bereits darin – die meisten grau um die Schnauze, manche lahm, einer blind. Sie alle schienen zu wissen, dass etwas Besonderes gleich geschehen würde.
Maria setzte sich langsam auf die Couch. Max legte sich neben ihre Füße, die Nase auf ihren Schuh.
Sie holte ihr Buch hervor: „Ein Mann namens Ove“ – nicht, weil es ein Hundebuch war, sondern weil es vom Altwerden handelte. Und vom Neuwerden.
Sie schlug die erste Seite auf. Räusperte sich.
Und begann.
„Ove war neunundfünfzig Jahre alt. Er fuhr einen Saab…“
Die Hunde rührten sich kaum. Nur ein alter Labrador namens Paulsen seufzte gelegentlich, als wisse er, wovon sie sprach.
Maria las langsam, bedächtig. Manchmal machte sie Pausen. Nicht, um Luft zu holen – sondern weil sie spürte, dass ihre Worte fielen wie Tropfen auf trockenen Boden. Dass sie etwas berührten, das nicht nur in ihr selbst lag.
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Nach zwanzig Minuten stellte sie das Buch zur Seite. Sabrina trat leise herein.
„Sie sind erstaunlich“, sagte sie. „Die Hunde sind danach immer ruhiger. Manche schlafen besser. Sogar Paulsen hat weniger gezittert.“
Maria lächelte. „Vielleicht spüren sie, dass jemand einfach da ist. Ohne zu fordern.“
„Wir würden Ihnen gern einen festen Platz anbieten – einmal pro Woche? Oder öfter, wenn Sie mögen.“
Maria zögerte. Sah zu Max. Der hob den Kopf, gähnte ausgiebig, dann schlug er zweimal mit dem Schwanz auf den Boden.
„Ich glaube, wir sind dabei.“
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Auf dem Heimweg regnete es leicht. Maria trug Max’ Lieblingsdecke unter dem Arm – eine der Helferinnen hatte sie für ihn in der Waschmaschine des Tierheims gereinigt, „damit der große Herr sich zu Hause gleich wieder wohlfühlt“.
Sie blieben kurz beim Bäcker stehen. Frau Wanninger, die Inhaberin, reichte ihr kommentarlos ein kleines Tütchen über die Theke.
„Leberwurstkekse. Von meinem Enkel gebacken. Für den Sonnenblumenhund.“
Maria lachte. Zum ersten Mal seit Wochen laut und hell.
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Zu Hause angekommen, trocknete sie Max sorgfältig ab, dann setzte sie sich mit einer Tasse Tee ans Fenster. Der Regen perlte leise an der Scheibe.
Sie holte das Tagebuch hervor, das sie nach Friedas Tod begonnen hatte. Keine großen Gedanken, nur kurze Einträge. Erinnerungen. Momente.
Mittwoch, 14. Juni:
Max hat heute zum ersten Mal bei der Lesestunde geschnarcht. Alle Hunde haben sich daran orientiert – und sind eingeschlafen.
Donnerstag, 22. Juni:
Ein blinder Schäferhund hat heute meinen Schal gestohlen. Ich hab’s ihm gelassen. Vielleicht roch er nach Max. Oder nach Mut.
Sie schrieb:
Montag, 3. Juli:
Ich habe heute mehr gegeben als gedacht – und weniger vermisst als befürchtet.
Dann legte sie den Stift weg. Max schlief. Der Regen hörte auf.
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Am Abend klopfte es an der Tür.
Herr Klein stand davor. In der Hand: ein Stapel Zeitungen.
„Ich hab gehört, Sie lesen jetzt bei den Hunden.“
Maria lächelte. „Es scheint sich herumzusprechen.“
„Ich hab da ein paar Romane, die meine Frau gesammelt hatte. Liebesgeschichten, mostly harmless. Vielleicht was für Vierbeiner mit Herz.“
Maria nahm das Bündel entgegen. „Ich nehm sie alle.“
„Und sagen Sie dem Hund“, fügte Herr Klein hinzu, „er soll nicht so charmant gucken. Meine Katze fühlt sich bedroht.“
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Später, als Maria die Romane durchblätterte – einfache Geschichten, zerschlissene Seiten, eingerissene Ecken – fiel ein alter Zeitungsausschnitt heraus.
Ein Artikel über die Seniorenpflege. Darunter handschriftlich notiert: „Nicht alles kann man heilen. Aber man kann immer begleiten.“
Sie legte den Zettel an die Pinnwand.
Und dachte:
Das gilt nicht nur für Menschen.
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Kurz vor dem Schlafengehen trat Maria noch einmal hinaus auf den kleinen Balkon. Max folgte ihr wie ein Schatten.
Der Himmel war klar. Die Luft kühl.
Sie blickte zu den Sternen.
„Frieda… falls du das sehen kannst: Ich begleite jetzt andere.“
Max setzte sich neben sie. Und seufzte tief.
Einverstanden.