Der letzte Spaziergang mit Frieda | Ein letzter Spaziergang, ein letzter Blick – und die Liebe, die trotzdem blieb

🔹 Teil 10 – Der Apfelbaum blüht wieder

Der Sommer kam langsam, fast zögerlich. Die Tage wurden wärmer, die Nächte kürzer, und auf dem kleinen Stück Wiese hinter Marias Haus zeigte sich das erste Weiß zwischen dem Grün: der Apfelbaum blühte.

Zum ersten Mal seit zwei Jahren.

Maria stand an diesem Morgen barfuß auf der Terrasse, die Kaffeetasse in der Hand, und betrachtete die zarten Blüten. Wie Wattefetzen, die sich sanft an die Zweige gelegt hatten. Frieda hatte früher genau an diesem Baum gelegen – still, wachsam, als sei sie der Wächter über alles, was wichtig war.

Jetzt lag Max dort.

Etwas schief, die Pfoten ausgestreckt, das Halstuch leicht verdreht, wie immer. In der Sonne glänzte sein Fell rotbraun, und wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, wie ruhig sein Brustkorb sich hob und senkte.

Er war angekommen.

Und Maria auch.

An diesem Nachmittag war Lesestunde im Tierheim. Maria fuhr mit dem Fahrrad. Der Korb am Lenker war vollgepackt: zwei neue Bücher, selbst gebackene Hundekekse und ein kleiner tragbarer Lautsprecher, auf dem sie Naturgeräusche abspielte – Wellenrauschen und Vogelzwitschern.

Max lief mittlerweile ohne Leine neben ihr her. Langsam, aber sicher. Wie jemand, der endlich weiß, wohin er gehört.

Im Tierheim wartete bereits eine kleine Gruppe: vier Senioren aus dem Ort, die sich angeschlossen hatten. Eine von ihnen war Frau Weber, die nun regelmäßig mitlas. Heute hatte sie ein Gedichtband mitgebracht. Der Hund, der sich stets auf ihren Schoß legte – ein alter Dackel mit nur einem Auge – hörte ganz besonders aufmerksam zu.

Sabrina, die Tierpflegerin, hatte im Leseraum einen Stuhlkreis aufgestellt. In der Mitte lagen Decken, Kauknochen, Spielzeuge. Max ging von einem zum anderen, begrüßte jeden Hund mit einem Nasenstupser, legte sich schließlich zwischen zwei Welpen, die zur Sozialisierung im Raum waren.

„Ich glaube, er übernimmt langsam die Leitung hier“, flüsterte Sabrina und zwinkerte.

Maria lachte. „Er war nie ein Mitläufer.“

Nach der Lesestunde saß Maria noch eine Weile auf der Bank vor dem Gebäude. Sie trank einen Schluck Wasser, streichelte Max und sah dem Sonnenlicht zu, das sich durch die Äste der Bäume brach.

„Weißt du“, sagte sie leise, „ich dachte immer, es gibt nur eine große Liebe im Leben. Einen Hund, der bleibt. Aber jetzt glaube ich… das Herz hat Platz für mehr. Und jede Liebe hat ihre Zeit.“

Max gähnte ausgiebig und leckte ihr über die Finger.

Einverstanden.

Zuhause wartete ein Umschlag im Briefkasten. Handgeschrieben, ohne Absender. Maria erkannte die Schrift sofort – es war die alte Nachbarin aus der anderen Straßenseite, Frau Roth, 83, fast blind.

Sie hatte gehört, was Maria im Tierheim tat.

Im Umschlag war ein kleines Kärtchen mit gepressten Gänseblümchen und einer Notiz:

„Ich kann nicht mehr raus. Aber wenn du magst, bring doch mal den Hund mit. Ich würde gern seine Stimme hören.“

Maria faltete das Kärtchen zusammen, streichelte Max über den Kopf.

„Du hast Termine, mein Lieber.“

Zwei Tage später lag Max brav neben Frau Roths Sofa. Sie war sehr klein geworden, fast durchsichtig. Aber ihre Stimme war noch klar.

„Er riecht nach Wärme“, sagte sie.

„Das tut er bei mir auch.“

„Und seine Augen… die reden mit einem.“

Maria lächelte. Sie wusste genau, was sie meinte.

Frau Roth erzählte von ihrem Dackel, Fritz, der ihr vor dreißig Jahren beim Tod ihres Mannes das Leben gerettet hatte. Nicht durch Heldentaten – sondern weil er einfach da war.

„Ich dachte, ich hätte nie wieder Platz“, sagte sie. „Aber der da… der hat sich einfach einen Stuhl geholt.“

An diesem Abend stand Maria wieder unter dem Apfelbaum. Die Blüten dufteten süß, Bienen summten.

Sie setzte sich in den Rasen, Max legte sich neben sie.

Aus der Küche kam der Geruch von Kartoffelsuppe. Auf dem Fensterbrett brannte eine kleine Kerze.

Und auf dem Gartentisch lag ein neues Notizbuch. Sie hatte es sich gekauft, ohne zu wissen warum.

Jetzt wusste sie es.

Sie schlug es auf.

Auf die erste Seite schrieb sie:

„Wenn ein Herz bricht, wächst es manchmal größer wieder zusammen.“

Dann legte sie den Stift weg, schloss die Augen und atmete tief ein.

Als es dunkel wurde, ging sie hinein.

Max folgte ihr auf leisen Pfoten. Er legte sich an seinen gewohnten Platz vor dem Bett. Maria streichelte über seinen Rücken, deckte sich zu und flüsterte:

„Morgen lesen wir wieder. Und vielleicht bring ich ein Stück Käse mit.“

Ein Schnaufer aus der Dunkelheit. Ein leichtes Wedeln.

Und Stille.

Aber diesmal eine Stille, die Frieden trug.

🔹 Ende der Geschichte: Der letzte Spaziergang mit Frieda

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