Der letzte Termin im Leben: Ein Vater, eine Krawatte, ein Versprechen

Herr Altmann verweigerte das Morphium nicht aus Angst vor dem Tod, sondern aus Angst, den wichtigsten Termin seines Lebens zu verschlafen.

Mannheim im Dezember ist keine Stadt für Romantiker. Der Nebel hängt schwer über dem Neckar, und der Wind pfeift gnadenlos durch die quadratischen Straßenzüge der Innenstadt.

Hier, im dritten Stock der Palliativstation des Universitätsklinikums, wirkt das Grau draußen noch bedrohlicher. Ich bin seit zwölf Jahren Arzt in der Schmerztherapie, aber nichts hätte mich auf einen Mann wie Werner Altmann vorbereiten können.

Herr Altmann war ein „Monnemer“ durch und durch – ein Mannheimer Urgestein. Ein ehemaliger Schichtarbeiter bei einem großen Traktorenhersteller, Hände groß wie Schaufeln, ein Gesicht wie gegerbtes Leder. Er hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium.

Laut Lehrbuch hätte er schon vor drei Tagen ins Koma fallen müssen. Sein Körper war ein Schlachtfeld, zerfressen von Metastasen. Der Schmerzpegel musste unvorstellbar sein, eine ständige Folter.

Aber Werner Altmann blieb wach.

Jedes Mal, wenn ich die Dosis des Schmerzmittels erhöhen wollte, um ihm den Übergang zu erleichtern, packte er meinen Unterarm. Sein Griff war schwach, aber seine Augen brannten.

„Lassen Sie das, Doktor“, knurrte er. „Morgen kommt Leni. Ich darf nicht lallen wie ein Betrunkener.“

Leni, kurz für Marlene, war seine einzige Tochter. Morgen war ihr Hochzeitstag. Eigentlich sollte die Feier im Rosengarten stattfinden, aber wegen seines Zustands hatte Marlene alles abgesagt, um eine Nottrauung hier im Krankenzimmer abzuhalten. Sie wollte nicht ohne ihren Vater heiraten.

„Herr Altmann“, versuchte ich es sanft. „Ihr Körper braucht Ruhe. Wir können den Schmerz nur blockieren, wenn Sie schlafen.“

Er schüttelte den Kopf, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. „Ruhen kann ich später. Ich habe ein Versprechen gegeben. Ein Mannheimer hält sein Wort.“

Er kämpfte nicht gegen den Tod. Er verhandelte mit ihm. Er rang ihm Stunde um Stunde ab, getrieben von einer Willenskraft, die medizinisch nicht erklärbar war. Er starrte auf die kahle Wanduhr, als würde er die Zeiger mit seinen Blicken vorwärts zwingen.

Am Samstagmorgen kam Marlene. Sie trug ein schlichtes, cremeweißes Kleid, darüber einen dicken Wintermantel. Ihr Verlobter, Thomas, hielt ihre Hand fest. Als Marlene ihren Vater sah – eingefallen, grau, an Schläuchen hängend –, brach sie fast zusammen.

„Papa“, weinte sie leise. „Wir müssen das nicht tun. Du hast Schmerzen. Bitte, ruh dich aus.“

In diesem Moment geschah das Unmögliche. Herr Altmann, der sich seit gestern kaum rühren konnte, richtete sich auf. Er winkte mich heran.

„Helfen Sie mir hoch, Doktor. Und geben Sie mir das Jackett.“

Es war sein alter Sonntagsanzug, dunkelblau, frisch gereinigt. Er hing wie ein Sack an seinem abgemagerten Körper, aber Herr Altmann trug ihn wie eine Rüstung. Er wollte sich die Krawatte binden. Seine Finger zitterten so stark, dass er den Knoten nicht hinbekam. Die Frustration in seinen Augen war herzzerreißend. Es war die Wut eines Mannes, der immer alles selbst gemacht hatte und nun an einem Stück Stoff scheiterte.

Ich trat vor. „Darf ich?“

Er nickte stumm. Ich band ihm die Krawatte, zog den Knoten fest und glättete den Kragen. Er atmete tief durch, sammelte jede verbliebene Unze Kraft in seinem Körper und setzte ein Lächeln auf. Es war kein maskenhaftes Lächeln; es war echt.

Die Zeremonie war kurz. Der Standesbeamte sprach leise, um die Stille des Raumes nicht zu stören. Draußen vor dem Fenster begann es leicht zu schneien, die ersten Flocken tanzten über den Wasserturm in der Ferne.

Als der Moment kam, nahm Herr Altmann die Hand seiner Tochter. Seine Hand war eiskalt, aber sein Griff war fest. Er legte sie in die Hand von Thomas.

„Pass auf sie auf, Junge“, sagte er mit fester Stimme. Dann sah er seine Tochter an. „Du bist wunderschön, Leni. Jetzt geh feiern. Und wehe, du heulst auf den Hochzeitsfotos.“

Marlene lachte unter Tränen. Sie küsste ihn auf die Stirn. „Ich liebe dich, Papa. Wir kommen heute Abend nochmal vorbei.“

„Nein“, sagte er bestimmt. „Fahrt direkt in die Flitterwochen. Der Schwarzwald wartet nicht. Mir geht es gut. Ich bin nur müde.“

Er spielte seine Rolle perfekt. Er war der starke Vater, der Fels in der Brandung, bis zur letzten Sekunde.

Marlene und Thomas gingen. Die Tür fiel ins Schloss. Schritte hallten den Flur hinunter.

In der Sekunde, als die Schritte verstummten, fiel die Maske. Herr Altmann sackte in die Kissen zurück. Die Spannung wich aus seinem Körper, und mit ihr das Leben. Der Monitor begann wild zu piepen. Seine Herzfrequenz stürzte ab. Er hatte seine gesamte verbliebene Lebensenergie in diese zwanzig Minuten investiert. Er hatte keine Reserven mehr.

Ich trat an sein Bett. Er sah mich an, der Blick war schon verschwommen, aber friedlich.

„Der Knoten…“, flüsterte er kaum hörbar. „Saß der Knoten gut?“

„Perfekt, Herr Altmann“, antwortete ich, und meine Stimme versagte fast. „Er war perfekt.“

„Gut“, hauchte er. „Jetzt… jetzt können Sie spritzen, Doktor.“

Ich verabreichte ihm das Morphium. Aber es war kaum noch nötig. Die Schmerzen waren nicht mehr wichtig. Er schloss die Augen. Zehn Minuten später hörte sein Herz auf zu schlagen, während draußen der Mannheimer Winter den Tag in Dämmerung hüllte.

Ich rief Marlene nicht sofort an. Ich wollte ihr diese paar Stunden unbeschwerten Glücks lassen, für die ihr Vater so unmenschlich gelitten hatte.

Als ich später das Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen, blickte ich auf die Lichter der Quadrate hinunter. Herr Altmann war ein einfacher Mann gewesen. Er hinterließ kein Vermögen und keine großen Denkmäler. Aber er hinterließ eine Tochter, die ihren Hochzeitstag in Erinnerung behalten würde als den Tag, an dem ihr Vater sie anlächelte und glücklich war.

Er hatte den Tod warten lassen, nur um einen Krawattenknoten zu binden. Das war der größte Sieg, den ich in diesem Krankenhaus je gesehen habe.

Klicke auf die Schaltfläche unten, um den nächsten Teil der Geschichte zu lesen. ⏬⏬

Scroll to Top