Der letzte Termin im Leben: Ein Vater, eine Krawatte, ein Versprechen

Drei Stunden nachdem Werner Altmann gegangen war, lag sein Zimmer wieder da wie vorher: dieselben grauen Wände, derselbe Geruch nach Desinfektion, dieselbe Uhr, die unbeirrt weitertickte, als hätte sie mit all dem nichts zu tun.

Nur dass das Bett nun ordentlich gemacht war, die Decke glatt, und auf dem Nachttisch sein dunkelblaues Jackett lag, sauber gefaltet, als hätte jemand Angst gehabt, es könnte sich noch einmal bewegen.

Ich stand am Fenster und sah in den Nebel hinaus, der die Lichter der Quadrate verschluckte, und zum ersten Mal an diesem Tag spürte ich, wie schwer meine eigenen Schultern waren. So viele Male hatte ich Sterben begleitet, hatte Hände gehalten, Worte gesucht, die nie groß genug sind, und doch glaubte ich jedes Mal, ich sei vorbereitet. Aber dieser Mann war nicht einfach nur losgelassen – er hatte bis zur letzten Minute Kraft gesammelt, um jemand anderem einen hellen Moment zu schenken.

In der Akte stand nüchtern „Verstorben um 12:17 Uhr“, als wäre das ein Verwaltungsakt wie Blutdruck messen. Ich unterschrieb, ich sprach mit der Pflege, ich regelte, was geregelt werden muss, weil in Krankenhäusern selbst Abschiede einen Ablauf haben.

Und während meine Hand routiniert arbeitete, hing mein Blick immer wieder an der Krawatte, die ich ihm gebunden hatte, an dem Knoten, der jetzt still in der Stofffalte lag wie ein kleines Siegel.

Kurz nach vier kam Schwester Jana zu mir, leise wie immer, wenn sie etwas in der Hand hatte, das mehr wiegt als Papier. Sie stellte einen kleinen Umschlag auf meinen Schreibtisch, altmodisch, dickes Papier, die Adresse in zittriger Schrift.

„Das lag in seiner Jackentasche“, sagte sie. „Er hat gestern Abend noch danach gefragt. Ob es sicher ist. Er hat gesagt: Nur dem Doktor geben.“

Auf der Vorderseite stand: „Für Marlene.“ Darunter, als hätte er noch einmal nachgedacht: „Erst nach der Hochzeit.“

Ich musste schlucken, weil da wieder dieser Blick vor mir war, dieses Brennen in den Augen eines Mannes, der nicht „wegdriften“ wollte, weil er einen Termin hatte. Ein Termin, den kein Kalender kennt, den aber alle verstehen, wenn man ihn einmal erlebt hat.

Ich nahm das Telefon in die Hand und legte es wieder weg. Ich stellte mir Marlene vor, wie sie irgendwo im Auto sitzt, das cremeweiße Kleid unter dem Mantel, die Finger kalt, aber das Lachen von vorhin noch warm im Gesicht, weil ihr Vater „wehe, du heulst auf den Hochzeitsfotos“ gesagt hatte.

Ich wusste, dass ich sie anrufen musste, und ich wusste ebenso, dass jede Minute Aufschub egoistisch wirkt und doch menschlich ist – weil man das Glück anderer nicht gerne zerbricht, wenn man es gerade erst gesehen hat.

Ich rief sie um 17:05 Uhr an. Nicht früher, nicht später, als hätte auch ich einen Knoten festziehen müssen, bevor ich sprechen kann. Es klingelte lange, und für einen Moment dachte ich, sie geht nicht ran, und ich hätte es verdient.

Dann hörte ich ihre Stimme, hell, erschöpft vor Emotion.

„Hallo?“

„Frau Altmann, hier ist Dr. … von der Station“, sagte ich und nannte meinen Namen, der mir plötzlich fremd vorkam. „Ich… ich muss mit Ihnen über Ihren Vater sprechen.“

Es wurde still. Dann kam ein Atemzug, kurz und scharf, als hätte ihr Körper die Wahrheit erkannt, bevor ihr Kopf sie zulassen konnte.

„Ist es passiert?“

„Ja“, sagte ich. „Er ist kurz nachdem Sie gegangen sind sehr ruhig geworden und schließlich eingeschlafen. Es war friedlich. Er hat… er hat gewartet, bis Sie weg waren.“

Ein Schluchzen stieg hoch, aber es war erst kein Weinen, eher ein Zittern, als würde sie noch versuchen, sich zusammenzuhalten. Dann sagte sie mit einer Stimme, die ich nie vergessen werde:

„Er hat’s wirklich geschafft, oder? Er hat wirklich… durchgehalten?“

„Er hat durchgehalten“, sagte ich. „Und er war bei klarem Kopf bis zum Schluss. Er hat mich noch gefragt, ob der Knoten gut sitzt.“

Da lachte sie kurz auf, mitten durch die Tränen, und in diesem Laut war alles: Liebe, Schmerz, Stolz und dieser Mannheimer Trotz, den er ihr vererbt hatte.

„Thomas hat gesagt, er hat noch nie so einen starken Menschen gesehen“, flüsterte sie. „Wir… wir wollten morgen früh los. In den Schwarzwald. Er hat es uns praktisch befohlen.“

„Dann tun Sie das“, sagte ich leise. „Nicht als Flucht. Als Geschenk. Er wollte genau das.“

Ich zögerte einen Moment, dann sagte ich: „Er hat Ihnen etwas dagelassen. Einen Umschlag. Ich bewahre ihn auf, bis Sie zurück sind. Er wollte, dass Sie ihn erst nach der Hochzeit öffnen.“

„Nein“, sagte sie sofort, bestimmt. „Ich hole ihn. Ich will zurückkommen und ihn selbst abholen. Und ich… ich möchte mich auch richtig verabschieden.“

Ich erklärte ihr ruhig, was möglich ist und wie wir es machen können, ohne Fachsprache, ohne Kälte, nur mit der Ehrlichkeit, die Menschen in solchen Momenten brauchen. Als wir auflegten, blieb ich einen Moment sitzen und merkte erst dann, dass meine Hände zitterten, als hätte ich die Krawatte noch einmal binden müssen.

Am nächsten Morgen schneite es stärker. Mannheim wurde weich an den Rändern, als hätte der Winter beschlossen, für einen Tag gnädig zu sein. In der kleinen Kapelle des Klinikums brannte eine Kerze, und ich stand kurz davor, nicht aus Pflicht, sondern weil ich sonst etwas in mir verschließen würde, das später nicht mehr aufgeht.

Wir sprechen in der Medizin oft von Würde, und meistens meinen wir Ruhe, Schmerzfreiheit, Kontrolle. Aber manchmal ist Würde ein Krawattenknoten. Manchmal ist Würde, seine Tochter noch einmal „wunderschön“ zu nennen, damit sie sich später daran festhalten kann, wenn alles andere wankt.

Zwei Tage später kam Marlene zurück. Nicht im Kleid, nicht im Glanz, sondern in Jeans, Winterstiefeln, das Gesicht blass, die Augen rot, und trotzdem stand sie aufrecht, als hätte sie sich vorgenommen, nicht zu fallen aus Respekt vor ihm. Thomas war bei ihr, seine Hand lag wie selbstverständlich auf ihrem Rücken, nicht besitzergreifend, sondern stützend.

Wir setzten uns in einen kleinen Besprechungsraum, weil das Krankenzimmer inzwischen wieder belegt war. Krankenhäuser haben keine Pausen, sie haben nur Übergänge. Marlene sah sich um, als suche sie irgendwo einen Rest von ihm.

„Es war schön“, sagte sie plötzlich, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte. „Im Schwarzwald. Es war… schrecklich schön. Weil ich die ganze Zeit dachte: Papa hat recht. Aber ich hab ihn überall gesehen. In jedem Weg, in jedem Baum, in jedem stillen Moment.“

Thomas nickte nur. Er sagte nichts, und doch war es ein Satz, weil seine Hand dabei einen Zentimeter fester auf ihrem Rücken lag.

Ich legte den Umschlag auf den Tisch. Marlene starrte ihn an, als wäre er heiß. Dann nahm sie ihn vorsichtig, als könnte sie ihn zerreißen, wenn sie zu fest zugreift.

Klicke auf die Schaltfläche unten, um den nächsten Teil der Geschichte zu lesen. ⏬⏬

Scroll to Top