„Er hat das geschrieben?“
„Ja“, sagte ich. „Und er wollte, dass Sie erst fahren. Das stand ausdrücklich so drauf.“
Sie fuhr mit dem Finger über die Schrift, und für einen Moment war sie wieder ein Kind, das den Namen des Vaters erkennt.
„Darf ich?“, fragte sie.
Ich nickte.
Sie öffnete den Umschlag langsam. Drinnen war ein gefalteter Brief, eine schlichte Krawattennadel, und ein kleines Foto, vergilbt: ein junger Mann in Arbeitskleidung, Arm um ein kleines Mädchen, beide lachen, im Hintergrund der Neckar.
Marlene zog scharf die Luft ein, als hätte jemand ihr kurz den Boden weggezogen. Dann faltete sie den Brief auf und las erst still, dann halblaut, weil es sich sonst anfühlt, als würde man ihn verraten.
„Marlene“, stand da, „wenn du das liest, habe ich meinen Termin geschafft. Du musst nicht zurückrennen wie früher, wenn du hingefallen bist. Du darfst weiterfahren. Du darfst lachen. Du darfst auch weinen, aber bitte nicht auf den Fotos, du kennst mich.“
Sie lachte, und diesmal war es ein richtiges Lachen, klein, gebrochen, aber echt.
„Ich bin stolz auf dich“, las sie weiter. „Nicht weil du heiratest. Sondern weil du geblieben bist, obwohl es schwer war. Thomas, pass auf sie auf. Und wenn ihr streitet, dann streitet fair. Nicht so stur wie ich manchmal. Und wenn du denkst, du schaffst etwas nicht, dann denk an meinen Krawattenknoten. Der letzte musste sitzen.“
Marlene presste den Brief an die Brust. Sie sah mich an, und da war kein Vorwurf mehr, kein „Warum“, nur diese stille Dankbarkeit, die einen Menschen gleichzeitig wärmt und erschüttert.
„Wissen Sie“, sagte sie, „auf dem Rückweg haben wir an einem Parkplatz gehalten. Es war kalt, und ich hab plötzlich angefangen zu weinen wie ein Kind. Und Thomas hat nichts gesagt, er hat nur meinen Schal fester gemacht. Dann hab ich Papas Stimme gehört: ‚Nicht auf den Fotos.‘ Und ich hab gelacht, obwohl es weh tat.“
Sie zog ihr Handy heraus, wischte, hielt es mir hin. Auf dem Display war ein Bild aus dem Krankenzimmer: sie im cremeweißen Kleid, Thomas daneben, und Werner Altmann im dunkelblauen Anzug, gestützt von Kissen, die Krawatte sauber gebunden. Und dieses Lächeln, das nicht gespielt war, sondern erkämpft.
„Das ist mein Hochzeitsfoto“, sagte Marlene. „Nicht das mit der Torte. Nicht das mit den Ringen. Das hier. Ich will mich später daran erinnern, wie er mich angesehen hat. Nicht nur daran, wie krank er war.“
Ich nickte, weil mir die Worte fehlten und weil Worte manchmal wirklich zu klein sind.
„Darf ich Ihnen noch etwas geben?“, fragte ich.
Sie sah mich verwundert an.
Ich holte die Krawatte aus der Schublade, zusammen mit dem sorgfältig gefalteten Jackett, das wir aufbewahrt hatten. Marlene nahm den Stoff, und als ihre Finger den Knoten berührten, zuckte ihr Mundwinkel – als hätte sie ihn noch einmal atmen hören.
„Der Knoten sitzt wirklich gut“, flüsterte sie.
„Er saß perfekt“, sagte ich.
Marlene stand auf und strich das Jackett glatt, fast automatisch, wie jemand, der Ordnung schafft, weil er sonst nichts ordnen kann. Thomas bedankte sich leise, und in seinem Blick lag etwas, das ich selten sehe: eine Form von Respekt, die nicht laut ist, aber bleibt.
Bevor sie ging, drehte Marlene sich noch einmal um.
„Er hat wirklich gedacht, ich darf erst glücklich sein“, sagte sie. „Und dann erst traurig.“
„Vielleicht“, antwortete ich. „Vielleicht hat er einfach gewollt, dass beides Platz hat.“
Draußen schneite es wieder, die Stadt war gedämpft, als würde sie Rücksicht nehmen. Als die Tür hinter ihnen zufiel, blieb ein Rest von ihnen im Raum, wie ein warmer Atemzug in kalter Luft.
In den Wochen danach merkte ich, dass Werner Altmann mir etwas beigebracht hatte, das in keinem Lehrbuch steht. Wenn ein Patient sagte: „Ich will nicht schlafen, ich muss noch etwas erledigen“, hörte ich genauer hin. Ich fragte nicht nur nach Symptomen, ich fragte nach Terminen, nach Versprechen, nach dem einen Satz, den jemand noch sagen will, bevor es dunkel wird.
Manchmal ist das nicht möglich. Manchmal ist die Zeit zu knapp und der Körper zu erschöpft. Aber manchmal reicht es, eine Hand zu halten, eine Nachricht zu schreiben, ein Foto zu machen, eine Krawatte zu binden. Kleine Handgriffe, die für Außenstehende banal wirken und für den, der geht, die Welt bedeuten.
Am ersten Sonntag im Januar bekam ich eine Postkarte. Kein großes Motiv, nur ein verschneiter Waldweg, Tannen, ein grauer Himmel. Hinten stand in Marlenes Schrift:
„Wir waren wieder da, am selben Parkplatz. Diesmal haben wir gelacht. Und ich habe nicht auf den Fotos geweint. Versprochen. Danke für den Knoten. Marlene & Thomas.“
Ich legte die Karte in meine Schublade, zu den anderen Dingen, die man offiziell nicht sammeln sollte und die man trotzdem sammelt, weil sie einen daran erinnern, warum man diesen Beruf macht. Dann ging ich zurück auf Station, an die Betten, an die Uhren, an die grauen Wände.
Der Nebel hing wieder schwer über dem Neckar, und Mannheim im Dezember war noch immer keine Stadt für Romantiker. Aber manchmal, wenn draußen der Wind durch die Straßen pfeift und drinnen jemand an einem Versprechen festhält, reicht ein einziger Gedanke, um das Grau weniger bedrohlich zu machen: Dass Liebe den Tod nicht besiegt, aber ihn manchmal warten lässt.






