Der Lieferfahrer, der nur 2,75 € bekam und einem alten Mann das Schweigen stahl

Der zweite Teil dieser Geschichte begann nicht mit einem neuen Facebook-Post, sondern mit etwas viel Leiserem: dem Gefühl, dass ein einzelnes „Klopf, klopf“ an einer Wohnungstür mein ganzes Leben verschoben hatte – nur ein paar Millimeter, aber genug, dass ich die Welt nicht mehr gleich sehen konnte.

Die Tage nach meinem Besuch bei Herrn Brenner verschwammen erst zu einem grauen Winterbrei. Vorlesungen, pendelnde Straßenbahnen, kalter Atem über dem Kaffeebecher, die übliche Müdigkeit, die man „Studentenleben“ nennt, obwohl es sich manchmal eher wie Dauerkater ohne Party anfühlt.

Und doch war etwas anders.

Jedes Mal, wenn mein Handy vibrierte, sah ich nicht nur einen Betrag und eine Adresse. Ich sah kurz ein Gesicht vor mir. Eine Tür. Ein Wohnzimmer, das ich noch nicht kannte.

Mein Facebook-Post war inzwischen durch die Stadt gewandert wie ein Gerücht. In der Mensa hatte mich eine Kommilitonin angesprochen: „Bist du der mit dem alten Feuerwehrmann?“ In der Bibliothek flüsterte jemand: „Krass, was du da gemacht hast.“ Ich hatte nichts „Krasses“ gemacht. Ich hatte nur endlich hingesehen.

Der echte Unterschied wartete jeden Abend irgendwo zwischen 21:25 Uhr und 21:35 Uhr.

Das Summen der App. „Café Morgenlicht“. „Ein großer, schwarzer Kaffee.“ Ziel: Zypressenweg, 7B.

Auftrag #9F2E.

Ich hätte die Tour inzwischen im Schlaf fahren können. Aber ich fuhr sie nicht mehr wie früher.

Früher war ich nur durch diese Stadt gerast. Jetzt sah ich sie anders. Hinter jedem erleuchteten Fenster fragte ich mich: Wer sitzt da allein vor einem schwarzen Fernseher? Wer bestellt Essen nicht, weil er Hunger hat, sondern weil er ein Geräusch braucht?

An diesem Abend schneite es nicht mehr, aber die Kälte war wie Glas. Ich balancierte den Becher die Treppe hoch, die Finger taub, und mein Herz pochte schneller, je näher ich der Sieben kam.

Ich klopfte.

Diesmal öffnete nicht die Pflegekraft. Diesmal öffnete er selbst.

Ohne Spalt. Ohne Rollator.

„Kommen Sie rein, Junge“, sagte Herr Brenner, und in seiner Stimme lag eine Wärme, die ich beim ersten Mal gar nicht erkannt hatte. „Also… Fritz. Entschuldigung. Ich übe noch.“

Ich trat ein. Die Wohnung war wieder dieselbe und gleichzeitig komplett anders.

Es roch nach Auflauf und Waschmittel statt nur nach abgestandener Luft. Auf dem Fernseher lief eine Nachmittagssendung, leise, aber präsent, wie ein Hintergrundherzschlag. Auf dem Beistelltisch standen jetzt nicht nur Mahnungen, sondern auch ein kleiner Ordner mit Registerblättern. Jemand hatte Ordnung in sein Chaos gebracht.

„Setzen Sie sich doch“, murmelte er und rückte an seinem wackeligen Tisch herum, als hätte er plötzlich Angst, ich könnte sich unwohl fühlen. „Die Dame vom Pflegedienst meinte, ich soll mich mehr… wie im Café verhalten, wenn Besuch kommt.“

Ich lachte kurz. „Dann bräuchten wir aber dringend besseren Kaffee.“

Er grinste. Und genau in diesem Moment verstand ich, wie jung ein Gesicht mit tiefen Falten aussehen kann, wenn es wieder gebraucht wird.

„Die Leute haben Ihnen wirklich viel gebracht“, sagte ich und deutete mit dem Kinn auf den Fernseher, auf den ordentlichen Ordner, auf den neuen Wasserkocher in der Küche.

Er nickte langsam. „Ihre Nachbarn“, korrigierte er. „Das ist ja das Verrückte. Ich wohne hier seit dreißig Jahren. Ich kenne ihre Nachnamen von den Klingelschildern. Aber ich wusste nicht, wie ihre Stimmen klingen. Jetzt weiß ich es.“

Er holte ein Blatt Papier aus dem Ordner und schob es mir hin. Es war ein Ausdruck meines Facebook-Beitrags. Oben stand: „Weststadt-Nachbarn“.

„Ich habe ihn mir ausdrucken lassen“, sagte er leise. „Ich wollte schwarz auf weiß sehen, dass ich nicht komplett vergessen bin.“

Seine Hände zitterten ein wenig, als er den Ausdruck glattstrich.

„Wissen Sie“, begann er, und seine Augen wanderten zum Foto von Lotte, das jetzt in einem neuen Rahmen steckte, „ich war früher der, der klingeln gegangen ist. Nachts um drei, wenn irgendwo der Rauchmelder losging. Wenn jemand im Auto eingeklemmt war. Ich war der, der Türen aufgebrochen hat, wenn es innen zu still war. Und jetzt…“

Er verstummte.

„Jetzt haben Sie bei mir geklopft“, ergänzte ich leise.

Für einen Moment war nur das Ticken einer billigen Wanduhr zu hören.

Dann räusperte er sich. „Die Frau vom Pflegedienst meinte, wir könnten so eine… wie hat sie es genannt… ‚Klingelpatenschaft‘ machen. Dass nicht nur Sie kommen, sondern dass es vielleicht einen kleinen Plan gibt. Nicht, dass jeden Tag jemand Kaffee bestellen muss, um kurz… zu existieren.“

Ich musste lachen. „Klingelpatenschaft. Das klingt wie eine sehr deutsche Lösung für Einsamkeit.“

Aber die Idee ließ mich nicht mehr los.

In dieser Nacht, als ich später im Auto saß und die App mir die nächste Bestellung reinwarf, schrieb ich zwischen zwei Ampeln eine Nachricht an die Gruppe „Weststadt-Nachbarn“:

„Update wegen Herrn Brenner: Ihm geht es besser. Dank euch! Der Fernseher läuft, Pflege ist organisiert. Aber ich merke: Er blüht vor allem dann auf, wenn jemand nicht nur kurz etwas abgibt, sondern fünf Minuten bleibt und zuhört. Hätte jemand von euch Lust, dass wir so eine Art ‚Klingelplan‘ machen? Nicht als Pflicht, sondern als Angebot. Vielleicht nicht nur für ihn. Ich kann die Liefer-App bedienen, aber vielleicht können wir auch eine Mensch-App bauen, mit echter Anwesenheit statt nur Pings.“

Ich drückte auf „Senden“ und fuhr weiter durch die Nacht. Blaue Bildschirme, rote Ampeln, gelbe Straßenlaternen, die Stadt war bunt und gleichzeitig unendlich grau.

Am nächsten Morgen vibrierte mein Handy, bevor der Wecker klingelte.

27 neue Kommentare.

Jemand schrieb: „Ich bin jeden Mittwochabend eh im Zypressenweg unterwegs, ich bring gern Kuchen vorbei.“ Ein anderer: „Bin Krankenpfleger, kann mal ungezwungen Blutdruck kontrollieren.“ Eine junge Mutter: „Meine Kleine liebt ältere Leute. Wenn es für ihn okay ist, kommen wir vorbei und sie zeigt ihm ihr neues Bilderbuch.“

Und dann ein Kommentar, der mir die Luft nahm: „Meine Oma sitzt wahrscheinlich zwanzig Straßen weiter genau wie er. Ich habe gestern mit ihr telefoniert. Ich schäm mich, dass ich das erst durch deinen Post kapiere.“

An diesem Tag machte ich viele Lieferfahrten. Aber jede Adresse war plötzlich mehr als ein Punkt auf einer Karte. Ich fing an, anders zu fragen.

„Guten Abend, Ihre Bestellung!“

„Danke…“

„Alles okay bei Ihnen?“

Manche Leute sahen mich an, als wäre ich verrückt. Andere fingen an zu reden. Ganz kurz nur. Aber die Art, wie ihre Schultern sich senkten, verriet mir, wie unendlich selten jemand diese Frage stellte.

Die Wochen vergingen. Herr Brenner bekam seinen Klingelplan.

Montags kam eine ältere Dame vom dritten Stock, die seit Jahren dieselbe Treppe stieg wie er, ohne ihn jemals wahrgenommen zu haben. Dienstags kam manchmal die junge Mutter mit dem Bilderbuchkind. Mittwochs schaute der Krankenpfleger vorbei. Donnerstags brachte jemand aus dem Café Morgenlicht Gebäck mit „Fehlern“ aus der Produktion.

Und freitags – freitags kam ich.

Nicht als Fahrer.

Als Fritz.

„Wenn Sie so weitermachen, brauchen Sie mich bald nicht mehr“, sagte ich einmal scherzhaft, als ich sah, wie lebendig es in seiner kleinen Wohnung geworden war. Jemand hatte eine Zimmerpflanze mitgebracht. Jemand anderes ein Puzzle.

„Ach, Junge“, schnaubte er. „Sie haben grundsätzlich was missverstanden. Ich habe nie ‚gebraucht‘, dass jemand mir Sachen bringt. Ich habe gebraucht, dass jemand mir zuhört, wenn ich erzähle, dass Lotte immer zu viel Salz in die Suppe getan hat. Wer sich dafür Zeit nimmt, ist nicht ersetzbar.“

Ich schluckte.

„Wie war Lotte?“, fragte ich.

Er lehnte sich zurück, und plötzlich war er nicht mehr der fragile, schmale Rentner im Sessel. In seinen Augen blitzte ein junger Mann auf, der in einem verrauchten Kneipenlokal einer Frau mit Hochsteckfrisur hinterherstarrt.

„Laut“, sagte er schließlich. „Sie war einfach laut. Nichts an ihr war leise. Ihr Lachen, ihre Meinungen, ihre Art, Türen zu schließen. Früher hat mich das wahnsinnig gemacht. Wenn ich heute die Wohnungstür zuklacken höre, könnte ich jedes Mal heulen vor Dankbarkeit, dass überhaupt noch etwas hier Lärm macht.“

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