Es war gegen Ende Februar, als die zweite Eisnacht kam.
Nicht so dramatisch wie die erste, aber genug, dass mein Handy aufleuchtete: „Warnung vor Glatteis“.
Ich hatte an diesem Abend frei. Keine Fahrten. Keine Pings. Ich saß über einem Referat, das irgendwann in zwei Wochen fällig war, und meine Gedanken drifteten ständig weg von Medienmodellen und Kommunikationsethik hin zu einem alten Mann in Flanell.
Kurz nach 21 Uhr sah ich wie automatisch auf mein Handy.
Kein Auftrag vom „Café Morgenlicht“.
21:15 Uhr.
21:25 Uhr.
21:30 Uhr.
Nichts.
Es war lächerlich. Natürlich war es lächerlich. Der Mann hatte inzwischen einen Fernseher, einen Klingelplan, Pflege. Er brauchte keine künstlichen Bestellungen mehr.
Und doch spürte ich, wie sich in meinem Bauch ein Knoten zusammenzog.
21:37 Uhr.
Ich stand auf.
„Wo gehst du hin?“, rief mein Mitbewohner aus der Küche, wo er sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen schob.
„Klopfen“, sagte ich nur und zog meine Jacke an.
Ich fuhr langsam, obwohl ich keinen Kaffee im Auto hatte, den ich verschütten konnte. Die Straßen glänzten wieder wie Glas. Diesmal wusste ich, wie heimtückisch das ist.
Vor dem Zypressenweg stand ein Lieferwagen schief am Straßenrand. Ein Mann stieg gerade vorsichtig aus, fluchend. „Schon wieder Eis“, knurrte er.
Ich rannte fast die Treppen hoch.
Vor 7B blieb ich stehen.
Ich lauschte.
Kein Fernseher. Kein Stimmenmurmel. Nur das entfernte Summen der Treppenhausbeleuchtung.
Ich klopfte.
Nichts.
Ich klopfte lauter. „Herr Brenner?“
Stille.
Etwas in mir riss.
Beim dritten Mal hörte ich es. Ganz leise. Ein Kratzen. Wie Fingernägel, die über etwas Hartes rutschen.
„Herr Brenner?!“
Ich drückte die Klinke herunter. Die Tür war nicht abgeschlossen.
Er lag im Flur.
Nicht dramatisch verdreht, nicht blutig. Einfach nur wie ein Mensch, dessen Beine nachgegeben haben, mitten auf dem Weg vom Wohnzimmer zur Küche. Ein Arm ausgestreckt, als hätte er nach der Kommode greifen wollen.
„Verdammt“, flüsterte ich und kniete mich neben ihn. „Herr Brenner?“
Seine Augen öffneten sich ein Spalt. „Zu… leise…“, murmelte er, kaum hörbar. „Ich wollte nur… Tee machen.“
Ich stolperte ins Wohnzimmer, suchte sein Handy – natürlich lag es aufgeladen und ordentlich neben dem Fernseher. Meine Finger zitterten, als ich den Notruf wählte.
„Adresse?“, fragte die Stimme am anderen Ende.
„Wohnanlage Am Zypressenweg“, keuchte ich. „Herr Brenner, siebter Stock. Ich glaube, er ist gestürzt. Er ist wach, aber… bitte beeilen Sie sich. Es ist glatt draußen.“
Die Minuten bis zum Sirenenton waren unendlich.
Ich sprach die ganze Zeit auf ihn ein, als wäre ich plötzlich selbst ein Fernseher, der nicht ausgehen durfte.
„Bleiben Sie bei mir, Herr Brenner. Wissen Sie noch, wie Sie Lotte kennengelernt haben? Erzählen Sie mir das später, ja? Sie haben mir versprochen, dass Sie mir die ganze Geschichte erzählen, nicht nur die Hälfte.“
Sein Mund verzog sich zu etwas, das ein Lächeln hätte sein können. „Sturer… Junge“, murmelte er.
Als die Sanitäter die Wohnung betraten, wirkte der Flur plötzlich viel zu klein für so viele Menschen. Sie waren routiniert, ruhig, freundlich. Und irgendwie fühlte sich die Szene vertraut an, obwohl ich so etwas noch nie erlebt hatte.
„Sie sind also Fritz?“, fragte einer von ihnen, während er routiniert Blutdruck maß. „Der mit dem Facebook-Post? Meine Frau hat geweint, als sie das gelesen hat.“
Ich nickte stumm.
„Gut, dass Sie gekommen sind“, sagte er. „Manche stürzen abends und liegen bis morgens. Das ist bei der Kälte nicht ohne.“
Sie nahmen ihn mit. Und zum ersten Mal war es nicht mein Job, ihm hinterherzulaufen. Ich blieb im Flur zurück, zwischen einem Paar abgenutzter Hausschuhe und einer Garderobe voller alter Jacken.
Am nächsten Tag im Krankenhaus wirkte er erschreckend klein in dem großen, weißen Bett.
„Nur ein leichter Kreislaufkollaps“, erklärte die Ärztin. „Und ein paar Prellungen. Aber in dem Alter kann so etwas schnell kippen. Dass Sie so schnell reagiert haben, war wichtig.“
Herr Brenner schielte zu mir rüber, einen Ausdruck zwischen Scham und Dankbarkeit im Gesicht.
„Schon wieder“, murmelte er. „Schon wieder steht ein junger Mensch neben meinem Bett und sagt: ‚Zum Glück war jemand rechtzeitig da.‘ Früher war ich das. Jetzt sind Sie es.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe nur geklopft.“
„Genau“, antwortete er. „Sie haben geklopft. Die meisten laufen vorbei.“
In den Wochen danach wurde der Klingelplan fester, strukturierter. Die Pflegekasse bewilligte mehr Stunden. Der Pflegedienst richtete eine Notruftaste ein, die er um den Hals tragen konnte. In der Facebook-Gruppe postete jemand: „Lasst uns das auch für andere Häuser machen.“
Und ich?
Ich fuhr weiter durch die Stadt.
Ich lieferte Pizza, Sushi, traurige Salate in Pappschalen. Ich trug Tüten durch Treppenhäuser, hörte Kinder hinter Türen lachen und Ehepaare streiten. Und jedes Mal, wenn ich irgendwo klopfte, sah ich für einen Moment nicht nur eine Hausnummer, sondern die Möglichkeit, dass hinter dieser Tür jemand sitzt, der in der Stille ertrinkt.
Ich war immer noch ein klammer 23-jähriger Student.
Aber ich war nicht mehr nur Fahrer.
Ich war auch der, der manchmal – ganz ohne App – beschließt, an einer Tür zu klopfen, bevor die Stille zu laut wird.






