Der Mann mit dem Handtuch im Türschlitz und der Hund namens Otto

Ich stoppte das Handtuch in den Türschlitz wie ein Verbrecher, nur damit niemand sein Wimmern hört.

Es ist nasskalt in Nürnberg. Dieser typische fränkische Winter, der einem in die Knochen kriecht und dortbleibt. Von meinem Fenster im dritten Stock kann ich die grauen Dächer der Nordstadt sehen, den feinen Nieselregen, der nie aufzuhören scheint. Aber heute ist mir das Wetter egal.

Heute wird Otto sechzehn.

Otto liegt auf seiner Decke neben der Heizung. Ein Labrador-Mischling, der mal schwarz war wie die Nacht, aber jetzt ist sein Gesicht so grau wie meins.

Er ist fast blind, und seine Hinterläufe machen nicht mehr mit. Wenn er aufstehen will, rutschen seine Pfoten auf dem Parkett weg wie auf Glatteis. Das Geräusch seiner Krallen, die hilflos kratzen, bricht mir jedes Mal das Herz.

Auf dem Küchentisch liegt es. Ein Rinderfilet vom Metzger am Kirchenplatz. Nicht vom Discounter, nein. Richtiges Fleisch. Es hat mich so viel gekostet wie mein Wocheneinkauf, aber das ist egal.

Der Tierarzt hat mir gestern diesen Blick zugeworfen. Diesen mitleidigen, professionellen Blick, den man in Deutschland so gut beherrscht. „Machen Sie ihm noch eine schöne Zeit“, hat er gesagt. Wir wissen beide, was das heißt.

Ich zünde keine Kerzen an. Ich will keine Aufmerksamkeit. In diesem Haus herrscht Ordnung. Absolute Stille. Seit Frau Müller unter mir vor zwei Jahren eingezogen ist, beschwert sie sich über alles. Über meine Schritte, über den Fernseher, und vor allem über Otto. „Hunde gehören nicht in eine Stadtwohnung“, hat sie mal im Treppenhaus gezischt, ohne mir dabei in die Augen zu sehen.

Deshalb habe ich Angst. Otto jault jetzt öfter nachts. Vor Schmerzen, vor Verwirrung. Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, dass heute, an seinem großen Tag, wieder ein Brief im Briefkasten liegt. Eine offizielle Beschwerde an die Hausverwaltung. Wenn ich die Wohnung verliere, verliere ich Otto. Oder schlimmer: Sie zwingen mich, ihn wegzugeben.

Es klopft.

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich erstarre in der Küche, das Messer noch in der Hand. Ich habe mich nicht getäuscht. Es hat geklopft. Hart, kurz, deutsch.

Ich blicke zur Tür. Da liegt schon etwas. Ein weißer Umschlag wurde unter dem Türschlitz durchgeschoben, genau dort, wo ich das Handtuch weggedrückt hatte.

Panik steigt in mir hoch. Sie haben es gehört. Sie haben Otto gehört, wie er vorhin beim Aufstehen aufgeheult hat. Ich will nicht öffnen. Ich will mich totstellen. Aber ich bin ein ordentlicher Bürger. Wir verstecken uns nicht.

Ich wische mir die Hände an der Schürze ab, gehe zur Tür und hebe den Umschlag auf. Kein Absender. Nur „An den Herrn mit dem Hund“ steht darauf, in einer krakeligen Handschrift.

Das ist es. Die Kündigung. Oder die Androhung einer Klage.

Ich reiße den Umschlag auf, meine Finger zittern. Draußen höre ich Schritte, die sich entfernen. Ich ziehe den Zettel heraus. Es ist kein offizielles Schreiben. Es ist ein abgerissener Zettel aus einem Notizblock.

Ich lese: „Hallo. Ich wohne über Ihnen. Ich höre Ihren Hund nachts manchmal weinen. Ich glaube, er hat Schmerzen beim Gehen, oder? Mein alter Schäferhund hatte das auch. Ich habe noch seine alte orthopädische Matte im Keller. Sie ist fast neu. Ich habe sie vor Ihre Tür gelegt. Vielleicht hilft sie ihm. Alles Gute.“

Ich starre auf den Zettel. Ich muss ihn zweimal lesen. „Über Ihnen“. Das ist der junge Kerl, der vor drei Monaten eingezogen ist. Der mit den Tattoos am Hals und der lauten Musik am Samstagabend, über den ich mich innerlich immer aufgeregt habe. Der, den ich nie gegrüßt habe, weil ich dachte, er passt nicht hierher.

Ich öffne die Wohnungstür. Der Flur ist leer. Aber da, direkt auf meiner Fußmatte, liegt sie. Eine dicke, graue Visco-Schaum-Matte. Teures Zeug. Daneben eine kleine Tüte mit Leckerlis.

Mir wird heiß. Nicht vor Wut, sondern vor Scham.

Ich stehe da im Treppenhaus, in meiner alten Strickjacke, und spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Wir Franken sind nicht bekannt für große Gefühle. Wir behalten das für uns. Aber in diesem Moment bricht etwas in mir auf.

Ich nehme die Matte und trage sie rein. Ich lege sie neben die Heizung. Ich helfe Otto, sich darauf zu legen. Er seufzt tief. Ein langes, tiefes Ausatmen. Zum ersten Mal seit Wochen scheinen seine Knochen Ruhe zu finden. Er leckt mir über die Hand, seine milchigen Augen schauen ins Leere, aber er weiß, dass ich da bin.

Ich gehe zurück in die Küche und werfe das Fleisch in die Pfanne. Es brutzelt laut. Der Duft von gebratenem Rindfleisch füllt die kleine Wohnung. Normalerweise würde ich sofort das Fenster aufreißen, damit es nicht ins Treppenhaus zieht. Damit sich niemand belästigt fühlt.

Aber heute nicht.

Ich lasse die Küchentür offen. Soll es doch riechen. Soll das ganze Haus riechen, dass hier Leben ist. Dass hier gefeiert wird.

Ich schneide das Fleisch in kleine Stücke. Otto frisst es gierig, mit einer Energie, die ich lange nicht gesehen habe. Er schmatzt. Laut. Ungehörig laut. Und es ist mir egal.

Später am Abend setze ich mich an meinen kleinen Schreibtisch. Ich nehme mein bestes Briefpapier. Ich schreibe an den jungen Mann von oben. Ich schreibe keine langen Romane. Nur: „Danke. Otto schläft wie ein Baby. Wenn Sie mal ein fränkisches Bier trinken wollen, klingeln Sie. 3. Stock. Thomas.“

Ich klebe den Brief an seine Tür, als ich mit Otto zur letzten Runde rausgehe – sehr langsam, Schritt für Schritt.

Draußen ist es immer noch kalt und dunkel. Die Straßenlaternen spiegeln sich im nassen Asphalt. Ein typischer, harter Winterabend in Nürnberg. Aber als ich auf meinen alten Hund hinabschaue, der auf wackeligen Beinen neben mir steht und tapfer schnüffelt, fühle ich mich nicht mehr so verdammt allein in dieser großen Stadt.

Wir urteilen so schnell übereinander hier. Wir ziehen Mauern hoch aus Schweigen und Ordnung. Aber manchmal braucht es nur einen alten Hund und einen zerknitterten Zettel, um zu merken, dass hinter den verschlossenen Türen auch nur Menschen leben.

Alles Gute zum Geburtstag, Otto.

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