Am Morgen nach Ottos sechzehntem Geburtstag wache ich auf, weil es in der Wohnung ungewohnt ruhig ist. Kein Kratzen auf dem Parkett, kein leises, suchendes Wimmern, nur das gleichmäßige Brummen der Heizung und der Regen, der gegen das Fenster tupft. Für einen Moment liege ich da und denke: So klingt es also, wenn er endlich schläft.
Otto liegt auf der grauen Matte, als hätte er nie woanders gelegen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich langsam, und seine Schnauze wirkt im Schlaf weicher, fast jünger. Ich knie mich daneben, lege die Hand auf seinen Rücken und spüre Wärme statt Spannung.
In der Küche hängt noch der Geruch von gebratenem Rind, als hätte er sich in den Möbeln festgesetzt. Ich mache Kaffee, stark wie immer, und höre über mir ein Fenster zufallen. Früher hätte mich das sofort genervt, heute klingt es einfach nur nach Leben.
Dann sehe ich den Briefkastenschlüssel am Haken, und mein Magen zieht sich zusammen. Ordnung, Thomas, denke ich. Einmal runter, einmal rauf, nichts Besonderes.
Im Treppenhaus riecht es nach nasser Wolle und Reinigungsmittel. Unten klappert jemand am Fahrradständer, und irgendwo läuft ein Radio, gedämpft durch Wände. Ich öffne meinen Briefkasten, und ganz oben liegt ein Umschlag.
Beige, sauber, mit Druckschrift: Hausverwaltung. Mein Herz macht diesen alten Sprung, den es immer macht, wenn etwas „offiziell“ aussieht. Ich halte den Umschlag zu fest, als könnte ich damit verhindern, was drinsteht.
Es ist keine Kündigung. Es ist eine Einladung zu einem „kurzen Gespräch“ wegen „wiederholter Hinweise auf nächtliche Geräusche im Haus“. Kein Name, kein direkter Vorwurf, nur diese neutrale Freundlichkeit, die sich manchmal wie ein kalter Mantel anfühlt.
Als ich wieder oben bin, hebt Otto den Kopf, als hätte er meine Unruhe gerochen. Seine milchigen Augen suchen nichts Konkretes, aber sein Kopf dreht sich zu mir. Ich setze mich auf den Boden, lehne mich an die Heizung und atme langsam aus, bis mein Brustkorb nicht mehr so hart ist.
„Na wunderbar“, sage ich leise. Otto schnaubt, als würde er zustimmen, und ich streiche ihm über die Stirn, bis meine Hand ruhig wird. Dann schaue ich auf den Umschlag, als läge darin eine zweite Kälte.
Gegen Mittag klingelt es. Nicht dieses harte Klopfen von gestern, sondern ein kurzes, zögerliches Klingeln, als würde jemand schon bereuen, dass er es getan hat. Otto zuckt kaum, er ist müde, aber er ist da.
Ich öffne die Tür einen Spalt, so wie man das in einem Mietshaus eben macht. Im Flur steht der Mann von oben, Kapuze, Tattoos am Hals, und in der Hand eine kleine Tüte, die nach Drogerie aussieht. Seine Stimme ist ruhiger, als ich es erwartet hätte.
„Ich bin’s von oben“, sagt er. „Ben.“
„Thomas“, sage ich automatisch, weil es in mir so arbeitet, wenn etwas unklar ist. „Thomas.“
Er hebt die Tüte ein Stück, als müsste er beweisen, dass er nichts will außer das, was drin ist.
„Ich war vorhin in der Stadt“, sagt er, „und hab rutschfeste Socken für Hunde gesehen. Mein alter Schäferhund ist auf dem Laminat auch immer weggerutscht, das hat ihn wahnsinnig gemacht.“
Mir wird warm im Gesicht, wieder diese Scham, die nicht laut ist, eher wie ein Stich. Drei Monate lang habe ich ihn höchstens als Störung wahrgenommen, und jetzt steht er da und bringt meinem Hund Socken. Ich räuspere mich, weil ich nicht weiß, wohin mit diesem Gefühl.
„Kommen Sie kurz rein“, sage ich, und ich höre selbst, wie ungewohnt das klingt. „Otto liegt da. Seit… na ja, seit Ihrer Matte… geht’s ihm besser.“
Ben zieht die Schuhe aus, ohne dass ich etwas sagen muss. Das fällt mir auf, weil es zeigt: Er kennt Regeln, auch wenn er nicht so aussieht, als würde er danach leben. Er geht langsam ins Wohnzimmer, bleibt einen Schritt entfernt stehen und schaut Otto an, als würde er sich erst vergewissern, dass er willkommen ist.
„Hallo, Alter“, murmelt er, und Otto wedelt ein bisschen. Ben kniet sich hin, lässt Otto schnuppern, und dann streicht er ihm vorsichtig über die Brust.
„Der ist ein Guter“, sagt er leise. „So einer bleibt einem.“
Wir sitzen in der Küche, trinken Kaffee, und ich merke erst dann, dass ich den Fernseher nicht einmal angemacht habe. Sonst lasse ich immer irgendwas laufen, einfach damit die Wohnung nicht so still ist. Heute ist die Stille nicht leer, sie ist… ruhig.
Ben erzählt in kurzen Sätzen. Baustellen, wechselnde Zeiten, manchmal früh, manchmal spät. Er redet nicht groß, er erklärt nichts, er sagt nur, wie es ist, und das wirkt auf eine seltsame Weise vertraut.
Mein Blick fällt auf den Umschlag von der Hausverwaltung. Er liegt zwischen uns wie ein Gegenstand, über den man nicht stolpern will, aber man stolpert trotzdem.
„Ich hab Post bekommen“, sage ich schließlich. „Wegen Lärm. Wegen Otto.“
Ben nickt, als hätte er das erwartet. Er schaut kurz zur Tür, als könnte er durch Holz hindurch hören.
„Unten… die Dame“, sagt er und lässt den Satz hängen. „Die macht das mit allem, oder?“
„Frau Müller“, sage ich, und schon der Name zieht die Schultern hoch. Ich denke an Nächte, in denen Otto gejault hat, und ich das Handtuch in den Türschlitz gestopft habe wie ein ertappter Mensch.
Ben trommelt einmal mit den Fingern auf den Tisch, nicht nervös, eher überlegend.
„Wenn Sie wollen, geh ich mit“, sagt er. „Zu dem Gespräch. Nicht als Retter oder so, aber… als jemand, der sagen kann, dass das kein Theater ist. Das ist ein alter Hund.“
Ich starre ihn an, weil mir diese Art von Hilfe fremd ist. Mein ganzer Instinkt sagt: Allein lösen, still sein, nicht auffallen. Und gleichzeitig spüre ich, wie etwas in mir nachgibt, als hätte ich zu lange die Zähne zusammengebissen.
„Würden Sie das wirklich machen?“ frage ich. Ben zuckt mit den Schultern, als wäre es das Normalste der Welt.
„Klar“, sagt er. „Für Otto.“
Am nächsten Tag ist der Regen noch da, aber er wirkt weniger wie ein Urteil. Ben kommt pünktlich, und ich schäme mich nicht einmal dafür, wie sehr mich das beruhigt. Otto bleibt auf der Matte, und ich stelle ihm den Napf so hin, dass er ihn findet, ohne rutschen zu müssen.
Das Büro der Hausverwaltung riecht nach Papier und Heizkörpern. Die Dame am Empfang lächelt neutral, freundlich, aber ohne Wärme, und ich denke: *Hier hängt jetzt mein Zuhause dran.* Das ist lächerlich, dass ein alter Hund einen Menschen so festhalten kann, und doch ist es so.
Im Gespräch rede ich weniger, als ich mir vorgenommen hatte. Ben spricht ruhig und sachlich, ohne großes Drama, nur Fakten: Otto ist sechzehn, Otto hat Schmerzen, Otto jault manchmal, und ich tue, was ich kann. Ich sitze daneben und merke, wie meine Hände im Schoß schwitzen, als wäre ich wieder der Schüler, der zum Rektor muss.
Irgendwann höre ich mich selbst sagen: „Ich will keinen Streit. Ich will nur, dass er in Ruhe alt werden darf.“ Es kommt schief raus, nicht perfekt, aber ehrlich.
Die Sachbearbeiterin schaut kurz auf, und in ihrem Blick ist für einen Moment weniger Routine. Sie sagt, man werde sich das anschauen, man wolle vermitteln, und man müsse eben auch Rücksicht auf alle nehmen. Sie sagt keine Drohungen, aber auch keine Versprechen, nur: Man bleibt im Gespräch.
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