Draußen, auf der Straße, atme ich so tief, dass mir kurz schwindlig wird. Ben grinst nicht, er wirkt eher erleichtert, als hätte er sich selbst schon zu viele schlimme Enden ausgemalt.
„War doch okay“, sagt er. „Mehr kann man nicht machen, als ruhig bleiben.“
Zwei Tage später treffe ich Frau Müller im Treppenhaus. Ich erkenne sie an den Schritten, schnell und bestimmt, als würde sie sich damit gegen alles wehren. Otto ist nicht dabei, ich komme nur kurz mit dem Müll runter, und ich merke, wie ich automatisch die Luft anhalte.
Sie bleibt stehen, ihre Augen flackern zu meiner Hand, zu meinem Schlüsselbund, zu allem, was „Ordnung“ heißt.
„Herr Thomas“, sagt sie, und es klingt, als müsse sie sich überwinden, meinen Namen zu benutzen, „in einem Mehrparteienhaus nimmt man Rücksicht. Das ist selbstverständlich.“
Der alte Thomas in mir will nicken, sich entschuldigen, klein werden. Aber etwas hat sich verschoben, vielleicht durch die Matte, vielleicht durch Ben, vielleicht durch das Gefühl, dass Otto gestern Abend wieder ruhig geatmet hat.
„Ich nehme Rücksicht“, sage ich. „Ich stopfe Handtücher in den Türschlitz, damit niemand sein Weinen hört.“ Ich schlucke und merke, wie mir die Stimme kurz weg will. „Und ehrlich gesagt: Ich schäme mich dafür.“
Frau Müller blinzelt, als hätte sie damit nicht gerechnet. Sie öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Dann sagt sie, leiser, als ich sie je gehört habe: „Manchmal… sind Geräusche nachts schwer auszuhalten.“
Sie schaut an mir vorbei, als würde sie sich selbst dabei beobachten.
„Mein Mann“, sagt sie nach einem Moment, „war vor seinem Ende auch oft wach. Und… es war nicht schön.“ Der Satz hängt kurz zwischen uns, und ich spüre, dass sie ihn am liebsten wieder zurücknehmen würde.
„Es tut mir leid“, sage ich, und diesmal ist es kein höflicher Satz, sondern ein echter. Ich räuspere mich. „Wenn es zu viel wird, sagen Sie es mir bitte direkt. Nicht über Briefe. Ich versuche, es besser zu machen.“
Frau Müller nickt steif, als wäre das ihr einziges Geländer. Dann fragt sie, fast widerwillig: „Wie heißt er denn?“
„Otto“, sage ich. Und ihr Gesicht wird nicht freundlich, aber etwas wird weicher.
In den nächsten Wochen verändert sich die Wohnung in kleinen Dingen. Ben hilft mir, zwei alte Läufer auszulegen, damit Otto nicht mehr rutscht, und ich tue nicht so, als wäre das peinlich. Ich besorge ein Tragegeschirr, mit dem ich Otto hinten stützen kann, und ich lerne, dass Hilfe nicht automatisch Verlust von Würde ist.
Otto hat gute Tage und schlechte Tage. An guten Tagen steht er auf, schnuppert am Fensterbrett, als würde er prüfen, ob die Welt noch da ist, und frisst mit Appetit. An schlechten Tagen bleibt er lange auf der Matte, und ich sitze daneben und erzähle ihm Dinge, die ich sonst niemandem erzähle.
Eines Abends klingelt es. Ich zucke noch immer zusammen, weil mein Körper das so gelernt hat. Als ich öffne, steht Frau Müller vor der Tür, die Hände verlegen an ihrer Tasche, als hätte sie sich das zehnmal überlegt und neunmal verworfen.
Sie hält mir eine saubere Wolldecke hin, alt, aber gut.
„Ich hatte die noch“, sagt sie kurz. Dann, nach einem Atemzug: „Vielleicht… mag er’s warm.“
„Danke“, sage ich, und ich merke, wie mir die Kehle eng wird. Frau Müller nickt knapp und dreht sich schon wieder weg, aber sie geht langsamer als sonst. Und ich halte die Decke, als wäre sie etwas Größeres als Stoff.
An einem Samstag macht der Regen zum ersten Mal Pause. Die Nordstadt wirkt heller, nicht schön wie im Prospekt, aber freundlicher. Ben steht unten vor dem Haus mit einem Bollerwagen, den ich eher bei Familien als bei Bauarbeitern erwartet hätte.
„Hab ich ausgeliehen“, sagt er schnell, als müsste er sich rechtfertigen. „Damit Otto mal raus kann, ohne dass er die Treppen als Gegner hat.“
Wir bringen Otto langsam runter, Stufe für Stufe. Es dauert, es ist umständlich, und trotzdem fühlt es sich richtig an. Unten legen wir Decken in den Wagen, Frau Müllers Wolldecke oben drauf, und Otto lässt sich sinken, als hätte er verstanden, dass heute keiner etwas von ihm verlangt.
Am Wöhrder See ist es kühl, aber nicht feindlich. Menschen joggen, Kinder rufen, Enten streiten sich, und Otto hebt den Kopf, als würde er all das in sich aufnehmen. Sein Schwanz klopft leise gegen die Decke.
Ben bleibt stehen und schaut aufs Wasser. Nach einer Weile sagt er, ohne große Einleitung: „Als mein Schäferhund gegangen ist, hab ich gedacht, das macht mich fertig.“ Er schiebt die Hände in die Jackentaschen. „Und dann hab ich gemerkt: Es ist nicht nur traurig. Es ist auch der Beweis, dass man’s ernst gemeint hat. Dass er nicht allein war.“
Ich schlucke, weil ich genau weiß, wovon er spricht. Ich schaue Otto an, grau und tapfer, und denke: *Er hat mich jahrelang durchgetragen, jetzt trage ich ihn.* Und ich tue es nicht mehr ganz allein.
Als wir zurückkommen, steht Frau Müller unten am Briefkasten. Sie sieht den Wagen, sieht Otto, und in ihrem Gesicht zuckt etwas, bevor sie es wieder in Ordnung bringt.
„Er sieht… zufrieden aus“, sagt sie, als hätte sie sich selbst überrascht.
„Ist er“, antworte ich. „Danke nochmal für die Decke.“ Ich zögere und höre mich dann sagen: „Wenn Sie möchten… kommen Sie nachher kurz auf einen Kaffee. Nur kurz.“
Frau Müller hebt die Augenbrauen, als hätte ich ihr etwas Unmögliches angeboten. Dann nickt sie klein. „Vielleicht“, sagt sie. Bei ihr ist das beinahe ein Ja.
Am Abend sitzen wir tatsächlich in meiner Küche. Ben auf dem wackligen Stuhl, Frau Müller aufrecht wie immer, aber mit einer Tasse in der Hand, als würde sie sich daran festhalten. Otto liegt auf der Matte, und sein Atem ist ruhig, und jedes Mal, wenn jemand leise lacht, bewegt sich sein Schwanz ein Stück.
Wir reden über nichts Großes. Über den Winter, über Heizungsluft, über die Bäckerei an der Ecke, die früher besser war. Und doch liegt über allem etwas Neues, etwas, das ich lange nicht in diesem Haus gespürt habe: ein bisschen Nachbarschaft.
Später, als Ben gehen will, bleibe ich mit ihm kurz im Flur stehen. Ich suche nach Worten, wie man das in meinem Alter eben tut, wenn es um Abschied und Angst geht.
„Wenn es irgendwann so weit ist“, sage ich schließlich, „dann will ich, dass Otto zuhause ist.“
Ben nickt, ohne Pathos.
„Dann ist er nicht allein“, sagt er. „Wenn Sie mich brauchen, klingeln Sie einfach.“
Als ich die Tür schließe, stopfe ich kein Handtuch mehr in den Schlitz. Ich lasse das Haus hören, dass hier ein alter Hund atmet, dass jemand sich bewegt, dass Leben nicht geräuschlos ist. Und irgendwo zwischen Briefkästen, Treppenstufen und diesem fränkischen Winter fühlt sich Nürnberg plötzlich weniger kalt an.
Otto hebt den Kopf, als ich ins Wohnzimmer komme. Ich knie mich zu ihm, streiche ihm über die Stirn und flüstere: „Alles Gute, mein Großer.“ Der Geburtstag ist vorbei, aber vielleicht sagt man so etwas nicht nur an einem Tag.
Otto seufzt lang und tief, als würde er die ganze Anspannung aus seinen Knochen lassen. Und in diesem Seufzer liegt etwas, das ich seit Wochen nicht mehr gehört habe: Ruhe.






