Der Morgen ohne Nachricht, der unsere Freundschaft in eine lebensrettende Verbindung verwandelte

An dem Morgen, an dem meine beste Freundin mir kein „Guten Morgen“ schrieb, wusste ich, dass etwas nicht stimmt, obwohl zwischen uns fast siebenhundert Kilometer liegen.

Ich bin achtzig Jahre alt, wohne in einer kleinen deutschen Stadt, in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Blick auf einen Innenhof, der lauter Geheimnisse kennt als Nachbarn. Meine Kinder leben ihr eigenes Leben, arbeiten viel, lieben mich, aber haben selten Zeit. Das ist kein Vorwurf. Es ist einfach… die Gegenwart.

Meine beste Freundin heißt Herta. Auch achtzig. Wir kennen uns seit dem ersten Schultag – zwei Mädchen mit zu großen Schultaschen und zu dünnen Zöpfen.

Sie ist der Liebe wegen nach Wien gezogen, als wir zwanzig waren. Ich blieb hier, heiratete später, wurde Witwe. Sie hat drei Katzen, ich habe meine Topfpflanzen. Über Jahrzehnte waren wir nur Postkarten und Weihnachtsbriefe füreinander.

Bis eines Tages das Internet kam. Oder besser gesagt: unsere Enkelkinder, die uns zeigten, wie Messenger funktioniert. Seitdem beginnt und endet jeder Tag mit einer kleinen Nachricht, die fast lächerlich kurz ist und doch unser Leben gerettet hat.

Es fing ganz harmlos an. Ein Foto von meinem Frühstücksbrötchen. Eine Aufnahme von ihrem Wiener Innenhof. Ein Emoji mit Herzchenaugen, das sie zuerst „die kleine rote Brille“ nannte. Wir lachten darüber, wie alt wir geworden sind, während unsere Daumen zittrig über dem Display schwebten.

Dann wurde aus Spaß ein Ritual:

„Guten Morgen, bin da.“

„Gute Nacht, noch da.“

Zehn, zwölf Wörter, mehr nicht. Aber in diesen wenigen Wörtern steckte ein Versprechen: Wenn eines Tages nichts kommt, wird die andere etwas tun.

Herta lebt allein in einer kleinen Wohnung in Wien. Drei Katzen, die sie „meine Mitbewohner mit Fell“ nennt. Ihre Kinder wohnen in der gleichen Stadt, aber sie arbeiten viel, haben ihre eigenen Sorgen, ihre eigenen Kinder. Sie besuchen sie, bringen Kuchen mit, fahren sie zum Arzt, aber oft mit Blick auf die Uhr. Niemand böse. Niemand herzlos. Nur müde.

„Weißt du“, schrieb sie einmal, „die Leute hier im Haus kennen nicht einmal meinen Nachnamen. Wir lächeln, wenn wir uns im Stiegenhaus treffen, und gehen dann wieder in unsere kleinen Inseln.“

Ich las das und dachte an mein eigenes Treppenhaus. Es ist hier nicht anders. Türen, die sich schnell schließen. Köpfe, die sich senken. Vielleicht ist es das, was mich und Herta am meisten verbindet: Wir sind nicht nur alt, wir sind unsichtbar geworden.

Vor ein paar Monaten begann sie, öfter über Schmerzen zu klagen. Die Beine, der Kreislauf, das Herz, das manchmal „stolpert“. Einmal vergaß sie die Gute-Nacht-Nachricht. Ich lag wach und starrte auf das Handy, bis endlich am Morgen ein „Entschuldige, bin eingeschlafen, alt eben“ kam. Ich fühlte, wie mein Herz sich erst dann wieder senkte.

Nach diesem Schreck trafen wir eine Abmachung, ernster als alle Kinderschwüre früher am Fluss:

„Wenn eine von uns 24 Stunden lang nichts schreibt, ruft die andere Hilfe.“

Sie schickte mir ihre Adresse in Wien, die Telefonnummer ihrer Wohnung, den Namen der Arztpraxis, bei der sie ist. Ich schrieb alles auf Zettel und klebte sie an meinen Kühlschrank. Neben alten Einkaufszetteln hing plötzlich der Beweis, dass ich irgendwo da draußen noch für jemanden verantwortlich bin.

Und dann kam dieser Morgen.

Am Abend davor war alles normal gewesen. Ein Foto von einer ihrer Katzen, die im Waschbecken schlief. Ihr Text: „Sie glaubt, sie ist Porzellan.“ Ich antwortete mit einem lachenden Emoji und schrieb: „Gute Nacht, Schwester meines Herzens.“

Kein „Gute Nacht“ zurück.

Ich redete mir ein, sie sei müde, habe das Handy im Wohnzimmer gelassen. Ich ging schlafen. Halbwegs.

Als ich um sechs Uhr morgens aufwachte, griff meine Hand automatisch nach dem Handy. Der Bildschirm war dunkel, kalt. Kein „Guten Morgen, bin da.“ Kein rotes Herz, kein Katzenfoto. Nur der alte Chatverlauf, der auf einmal wie eine Reihe von Rettungsringen aussah und der letzte fehlte.

Ich saß in meiner kleinen Küche, der Tee vor mir wurde kalt. Ich aktualisierte das Chatfenster, als könnte ich sie herbeiklicken. Nichts.

„Übertreib nicht“, murmelte ich. „Vielleicht ist der Akku leer. Vielleicht schläft sie länger.“

Um neun Uhr war ich nicht mehr überzeugt. Um elf Uhr hatte ich das Gefühl, mir brenne ein Loch in die Brust. Ich wählte ihre Festnetznummer in Wien. Es klingelte. Und klingelte. Niemand hob ab. Kein Anrufbeantworter, nur Stille, die durch die Leitung kroch.

Meine Hände zitterten, als ich die Nummer des Wiener Notdienstes heraussuchte. Eine neutrale Nummer, kein Firmenname, nur „Notruf“. Ich hörte mein eigenes Herz klopfen, als eine ruhige Stimme „Notruf, was kann ich für Sie tun?“ sagte.

„Es klingt vielleicht verrückt“, brachte ich hervor, „aber ich bin… eine alte Freundin. Wir kennen uns seit der Schule. Sie ist achtzig, lebt allein. Wir schreiben jeden Tag. Heute kam keine Nachricht. Gestern Abend auch nicht. Das passiert nie.“

Ich erwartete ein genervtes Seufzen. Stattdessen fragte die Stimme sachlich nach Name, Adresse, Umständen. Ich las den Zettel vom Kühlschrank vor, als hätte ich eine Prüfung. Dann: „Wir schicken jemanden vorbei. Bleiben Sie bitte erreichbar.“

Also wartete ich.

Die Minuten wurden schwer, wie früher die Schultasche im Winter. Ich saß am Küchentisch, das Handy vor mir, starrte auf den stillen Display. Ich dachte an zwei Mädchen, die barfuß durch den Sommer liefen, und an zwei alte Frauen, die jetzt nur noch über kleine blinkende Symbole miteinander verbunden waren.

Nach einer Stunde vibrierte das Handy.

Eine Nachricht.

Aber nicht von Herta. Ein fremder Name, den ich nur aus Erzählungen kannte – einer ihrer Söhne.

„Guten Tag, hier ist… Ich bin der Sohn von Herta. Ich schreibe von ihrem Handy. Danke, dass Sie den Notruf angerufen haben.“

Ich hielt den Atem an.

„Mama ist im Bad gestürzt und bewusstlos geworden. Der Notdienst hat sie gefunden. Sie ist im Krankenhaus, aber ansprechbar. Ohne Ihren Anruf hätte sie wahrscheinlich viel länger dort gelegen.“

Die Buchstaben verschwammen. Ich merkte erst da, dass ich weinte. Leise, altmodisch, in mein Geschirrtuch hinein. Vor Erleichterung. Vor Angst, die endlich einen Ausgang gefunden hatte. Und vor Dankbarkeit, dass uns unsere kindische Routine mit den zwei Nachrichten am Tag ernst genommen worden war.

Am Abend kam eine Sprachnachricht. Die Stimme war brüchig, aber unverkennbar Herta.

„Na, du alte Krähe“, flüsterte sie, „du hast mich aus der Badewanne fischen lassen, ohne mich je getroffen zu haben. Weißt du noch, wie wir früher am Fluss geschworen haben, uns nie allein zu lassen? Du hast dein Versprechen gehalten.“

Ich lachte und weinte gleichzeitig. Ich sah uns wieder, wie wir mit abgeschnittenen Jeans im Wasser standen, das Leben vor uns wie eine endlose Straße. Die Straße war kürzer geworden. Aber wir waren immer noch zu zweit.

Ihre Kinder organisierten danach mehr Hilfe. Eine Nachbarin kommt jetzt regelmäßig vorbei, bringt Suppe, schaut nach den Katzen. Aber unsere wichtigste Leitung bleibt dieselbe: Morgen- und Abendnachrichten, die fast lächerlich kurz sind und unbezahlbar.

Vor ein paar Tagen schrieb Herta: „Wenn ich wieder ganz fit bin, kommst du nach Wien. Wir sitzen im Café und tun so, als wären wir wieder sechzehn.“

Heute Abend sitze ich im Dunkeln, nur das Display leuchtet mein Gesicht an. Ein kleines Fenster in eine andere Stadt, in ein anderes Leben.

„Bin zu Hause“, schreibt sie. „Katzen schnurren. Ich bin da. ♥“

Ich tippe langsam, damit meine zittrigen Hände keinen Unsinn schreiben:

„Ich auch. Seit unserem ersten Schultag. Und solange eine von uns noch schreiben kann, wird keine von uns wirklich allein sein.“

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