Die Geschichte mit der vergessenen Guten-Morgen-Nachricht hätte an jenem Abend enden können mit einem Schrecken, einer Träne, einem dankbaren Aufatmen. Aber irgendetwas in mir wusste: Wenn das Leben uns im hohen Alter so deutlich an der Schulter rüttelt, will es selten nur „Hallo“ sagen. Es will etwas verändern.
In den Tagen nach Hertas Sturz war mein Kühlschrank plötzlich das wichtigste Möbelstück in meiner Wohnung. Zwischen Einkaufszetteln und vergilbten Postkarten klebte der Zettel mit ihrer Adresse, den Telefonnummern, dem Namen der Arztpraxis.
Ich ging mehrmals am Tag daran vorbei, strich mit den Fingern über das Papier und dachte daran, wie ich am Telefon die Daten buchstabiert hatte, während mir fast die Stimme brach. Es war, als hätte jemand eine unsichtbare Schnur zwischen meiner kleinen Stadt und ihrer Wiener Wohnung gespannt. Dünn, aber stark.
Herta schickte mir aus dem Krankenhaus kurze Sprachnachrichten. Manchmal nur ein „Bin noch da, keine Panik“, unterlegt vom Piepen der Geräte. Manchmal ein leises Lachen, wenn eine Schwester ihr das Handy falsch herum in die Hand gedrückt hatte.
Ich hörte ihre Müdigkeit, das Kratzen in ihrer Stimme, aber auch etwas Neues: eine vorsichtige Ernsthaftigkeit. Als hätte sie begriffen, dass unser kindischer Schwur am Fluss und unsere Messenger-Routine nun in die gleiche Kategorie fielen wie Medikamente einnehmen und Termine einhalten.
Meine Kinder bekamen natürlich alles mit. Nicht, weil ich es ihnen sofort erzählt hätte, ich wollte zuerst selbst verstehen, was passiert war, sondern weil meine Tochter irgendwann beim Kaffee fragte, warum ich alle paar Minuten auf das Handy schaue. Ich erzählte vom Sturz, vom Notruf, von der Nachricht ihres Sohnes. Meine Tochter legte die Hand auf meine, so fest, dass es fast weh tat.
„Mama“, sagte sie, „das war sehr mutig. Aber du kannst doch nicht die Einzige sein, die auf Herta aufpasst. Du bist selbst achtzig.“
Ich hätte beleidigt sein können. Stattdessen musste ich lachen. „Da hast du recht. Aber wer soll sonst mitten in der Nacht merken, wenn sie plötzlich zu still ist? Du? Ihr Kinder habt so viele Telefone wie Socken, da geht eine alte Frau schnell verloren.“
Sie verzog das Gesicht, weil sie wusste, dass etwas Wahres darin lag. Am nächsten Tag schickte sie mir eine Liste von Notfallnummern, „nur für den Fall“.
Ich lächelte, klebte sie neben Hertas Kontaktdaten und dachte: Jetzt sieht der Kühlschrank aus wie das Leben – bunt, chaotisch, voll Verantwortung.
Herta wurde nach ein paar Wochen aus dem Krankenhaus entlassen. Reha, sagte sie am Telefon, als wäre es ein neuer Kurs in der Volkshochschule.
„Die bringen mir bei, wie man richtig fällt“, scherzte sie. „Als könnten sie uns nach achtzig Jahren noch etwas über das Hinfallen erzählen.“ Aber in den Pausen zwischen den Witzen hörte ich, dass ihr der Schreck immer noch in den Knochen saß.
Eines Abends, als der Himmel über meiner Stadt schon früh dunkel wurde, schickte sie mir ein Foto. Ihr Kühlschrank. Darauf ein Zettel, groß und schief, mit meinem Namen, meiner Adresse, der Telefonnummer meiner Hausärztin. Darunter, in ihrer krakeligen Schrift: „Für den Fall, dass du auch mal nicht schreibst, du alte Sturköpfin.“
Ich starrte lange auf dieses Bild. Es war nur Papier mit Tinte, und doch fühlte es sich an wie ein Sicherheitsgurt. Zum ersten Mal seit langem dachte ich nicht nur daran, Herta zu verlieren, sondern auch daran, dass ich selbst vielleicht nicht so unverwüstlich war, wie ich gerne tat.
Wir hatten immer gescherzt, dass ich „die Vernünftige“ und sie „die Wilde“ sei. Aber das Alter macht vor solchen Rollen nicht halt. Es zieht einfach einen Strich durch alle.
In den Wochen danach wurde unsere Routine noch genauer. Wir schrieben nicht nur „bin da“, wir schrieben auch „bin beim Arzt“ oder „gehe jetzt duschen, melde mich danach“. Es hätte kontrollierend wirken können, aber für uns war es wie eine Hand am Ellenbogen, wenn man eine unübersichtliche Straße überquert. Und trotzdem passierte es.
Es war ein verregneter Dienstagmorgen, als der Teppich in meinem Badezimmer beschloss, sich zu kräuseln. Ich hatte schlecht geschlafen, war müde, stellte die Teetasse auf den Rand des Waschbeckens und wollte nur schnell das Gesicht waschen. Mein Fuß blieb hängen, der Boden kam mir entgegen, viel schneller, als es fair gewesen wäre. Ein dumpfer Schlag, ein kurzer Schmerz, dann eine merkwürdige Stille.
Ich weiß nicht, wie lange ich im Bad lag. Die Welt war plötzlich klein geworden, auf Fliesen und Handtuchgröße. Mein Handy lag im Wohnzimmer, auf dem Sofakissen, wo ich es gestern Abend hingelegt hatte.
Ich erinnerte mich dunkel daran, dass ich Herta noch „Gute Nacht“ hatte schreiben wollen, aber dann rief meine Tochter an, und danach war ich eingeschlafen. Kein „bin da“ am Abend. Kein „bin da“ am Morgen.
Später erzählte mir Herta, wie es auf ihrer Seite der Schnur aussah. Sie wartete bis sieben Uhr. Dann bis halb acht. Sie schrieb „Alles gut?“, sah die zwei grauen Häkchen und keinen Antwortpunkt, der tanzte.
Um neun rief sie bei mir an. Es klingelte. Und klingelte. Ihre Hände zitterten, als sie die Nummer meiner Tochter wählte, die sie vom Zettel am Kühlschrank ablas.
Meine Tochter stand ein paar Straßen weiter im Büro, als ihr Handy vibrierte. Herta, deren Nummer sie kannte, aber selten sah. „Ihre Mutter meldet sich nicht“, sagte die Stimme aus Wien. „Und sie wollte sich melden.“
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