Teil 5: Wenn einer fehlt
Der Regen prasselte gleichmäßig auf das Wellblechdach des Schuppens. Er tropfte von den Kastanienblättern, rann über den zerbrochenen Gartenzwerg am Brunnenrand, sammelte sich in kleinen Pfützen auf den ausgetretenen Pflastersteinen.
Sam stand im Regen.
Nicht weil er nicht bemerkt hatte, dass das Tor leer war – sondern gerade deswegen. Seit Tagen hatte er jede Bewegung in der Dämmerung verfolgt. Das leise Knirschen von Schritten im Kies, das Klicken des Tors, das Räuspern, bevor Paul „Na, Alter“ sagte.
Aber diesmal kam nichts.
Frau Lichtenberg öffnete die Tür zum Hof, blieb in der Tür stehen, den alten Regenmantel über dem Nachthemd. Sie wollte Sam hereinrufen. Doch er bewegte sich nicht. Stand einfach da. Stark und still.
Lilo saß in der Hütte, im Trockenen.
Doch ihr Hals war lang gestreckt, der Blick auf Sam gerichtet. Sie schnatterte nicht. Das tat sie nie. Doch etwas in ihrer Haltung war neu – angespannt, als ob selbst sie nun verstand, dass dieser Abend anders war.
Paul kam am nächsten Tag nicht.
Und auch am Tag darauf nicht.
Beim dritten Abend legte Frau Lichtenberg ihre Hand auf Sams Rücken.
„Manchmal…“, sagte sie leise, „…halten Menschen ihr Wort nicht. Nicht weil sie nicht wollen. Sondern weil sie nicht mehr können.“
Sam blinzelte. Seine Ohren zuckten kaum merklich. Dann senkte er den Kopf.
Lilo trat unter seinen Bauch, lehnte sich an seine Brust wie ein Kind an den Vater. Und so blieben sie – im feuchten Hof, vor der Hütte, zu zweit in einem Raum aus Schweigen.
Am Morgen rief Frau Lichtenberg in der alten Gemeindeverwaltung an. Niemand dort kannte Paul Rademann. Kein Eintrag, keine Meldeadresse. Die Frau am Apparat klang gelangweilt.
„Vielleicht war das nur sein Name von früher“, sagte sie. „Die Leute ändern das manchmal, wenn sie verschwinden wollen.“
Verschwinden.
Das Wort hallte nach. Wie ein Luftzug durch einen leeren Flur. Frau Lichtenberg saß eine Weile auf dem Küchenstuhl, die Hand am Telefonhörer, obwohl das Gespräch längst beendet war.
Und plötzlich erinnerte sie sich: Paul hatte einmal erwähnt, dass er in der Stadt in einer Werkstatt arbeitete. Fahrräder, hatte er gesagt. Für alte Leute. Für Kinder.
Sie rief Dr. Martens an.
Am Nachmittag fuhr ein alter VW-Bus in den Hof. Weiß, mit rostigen Kotflügeln und einem kleinen Aufkleber auf der Tür: „Rad & Rat – Reparatur mit Herz“
Ein junger Mann stieg aus. Blass, Sommersprossen, in ölverschmierten Jeans.
„Sie suchen Paul?“, fragte er. „Der mit dem Hund?“
Frau Lichtenberg nickte.
Der Junge schob sich die Mütze aus der Stirn. „Er war vorgestern nicht zur Arbeit gekommen. Wir haben dann gehört… na ja… er ist wieder eingewiesen worden.“
„Wo?“
„Klinik am Stadtrand. Station 3.“
Dann sah er Sam.
„Der Hund“, flüsterte er. „Der war alles für ihn. Er hat oft von ihm geredet. Aber ich dachte immer, das ist so eine Geschichte. So eine alte Kindersache.“
Frau Lichtenberg schüttelte langsam den Kopf.
„Nein“, sagte sie. „Das war seine Wahrheit.“
Am nächsten Morgen nahm sie den alten Einkaufstrolley. Legte zwei Decken hinein, etwas gekochten Reis, ein Buch, ein Foto von Sam – das, auf dem er schläft und Lilo neben ihm wacht.
Sie ließ den Hof offen.
Sam ging nicht mit.
Er stand an der Hütte, wie verankert. Seine Augen verfolgten ihre Schritte. Lilo blieb bei ihm. Doch diesmal stand sie nicht still. Sie watschelte aufgeregt um ihn herum, als wollte sie ihn schubsen.
Er ließ es geschehen.
Dann legte er sich hin. Und wartete.
Die Klinik war grau. Nicht kalt, nicht schmutzig. Nur grau. Ein Ort, an dem alles zu gleich klingt. Die Gänge dämpfen jeden Schritt, und das Lächeln der Pfleger ist professionell – nicht falsch, aber auch nicht echt.
Station 3. Neurologie. Depression. Rückfälle.
Paul saß am Fenster.
Ein weißer Bademantel, die Stirn an der Scheibe. Er sah den Regen. Sah ihn an, als würde er etwas zählen, das niemand sieht. Vielleicht verpasste Jahre. Vielleicht Schuld.
Frau Lichtenberg blieb einen Moment an der Tür stehen. Dann setzte sie sich ihm gegenüber.
Sie sagte nichts.
Er drehte sich nicht um.
Nach einer Weile sagte er nur: „Ich habe gedacht, ich schaffe es diesmal. Aber dann… ich weiß nicht. Ich habe ihn gesehen. Und es hat alles zurückgebracht.“
„Was?“
„Dass ich ihn im Stich gelassen habe.“
Frau Lichtenberg holte das Bild aus der Tasche.
Reichte es ihm.
„Du hast ihn nicht vergessen“, sagte sie. „Und er dich nicht. Mehr kann niemand tun.“
Paul nahm das Bild. Seine Hand zitterte. Doch er hielt es fest.
„Er hat gewartet“, sagte er.
„Er wartet noch.“
Zuhause im Hof saß Sam wieder vor dem Tor.
Die Sonne schien schwach durch die Wolken. Lilo stand neben ihm, sah hoch, sah dann wieder zum Weg. Der Bus würde nicht heute kommen. Auch nicht morgen. Vielleicht nie. Doch sie standen da.
Gemeinsam.
Am Abend kam Frau Menke vorbei. Sie brachte einen kleinen, selbstgenähten Kissenbezug für die Hütte.
„Ich weiß nicht, ob Hunde sowas brauchen“, murmelte sie.
„Doch“, sagte Frau Lichtenberg. „Aber sie sagen es nicht.“
Als sie später in der Dämmerung durch das Fenster sah, bemerkte sie, dass Sam nicht mehr auf der Hütte lag – sondern davor, den Blick zum Weg, als wüsste er: Bald wird jemand wiederkommen.