Der Schattenhund im Hof | Er wartete im Schatten – doch nur eine kleine Ente glaubte noch an sein Herz

Teil 6: Was bleibt

Der Wind drehte an diesem Tag.

Er roch nicht mehr nach Regen, sondern nach Erde – wie frisch umgegrabene Beete im März, obwohl es mitten im Oktober war. Frau Lichtenberg stand am Gartentor und blickte die Straße hinab, obwohl sie sich selbst geschworen hatte, genau das nicht zu tun. Warten war eine Last, die man mit Würde tragen musste. Aber manchmal wollte das Herz wissen, bevor die Vernunft bereit war.

Sam lag nicht mehr in der Hütte.

Er lag vor ihr. Aufrecht, den Kopf wachsam, den Blick nach vorn gerichtet. Und neben ihm – wie jeden Tag – saß Lilo, etwas näher als sonst, die Flügel eng am Körper.

Sie hatten eine Art Ordnung geschaffen, zu dritt.

Nicht laut, nicht festgelegt. Aber spürbar. Es war, als wären sie ein eigenes kleines Rudel geworden, ein Hof aus Warten, Vertrauen und stummer Sprache.

Und dann kam das Geräusch: ein Motor, langsam, ein bisschen unrund.

Der weiße VW-Bus bog um die Ecke.


Paul sah älter aus.

Nicht im Gesicht – das war ruhig, fast wie immer. Aber in der Haltung. Er stieg aus, blieb einen Moment an der Tür stehen, als müsse er sich erst erinnern, wie man willkommen wird. Dann ging er langsam zum Gartentor.

Sam stand nicht auf.

Er sah ihn nur an.

Nicht feindlich. Nicht freundlich. Sondern wie einer, der alles gespürt hat, was gesagt wurde – ohne dass ein Wort gefallen war.

Lilo watschelte einen Schritt vor, blieb stehen. Sie duckte sich leicht. Und dann – ganz ruhig – schnatterte sie. Einmal. Kurz.

Paul lächelte.


Frau Lichtenberg öffnete das Tor.

Sie sagte nichts. Nahm Paul nur die Tasche ab, stellte sie wortlos an die Seite. Dann ging sie zurück auf die Bank, setzte sich langsam. Ihre Knie knackten leise, als wollten sie mitreden.

Paul blieb stehen.

„Ich weiß nicht, ob ich bleiben kann“, sagte er.
„Du bist ja schon hier“, antwortete sie.


Später, als der Nachmittag sich in langes Licht verwandelte, saßen sie zu zweit am kleinen Gartentisch. Sam lag nicht weit entfernt, halb im Schatten, halb im Licht. Lilo hatte sich in eine Mulde neben ihn gesetzt, den Schnabel zwischen die Federn geschoben.

Paul trank Tee.

Er hielt die Tasse mit beiden Händen, als wolle er etwas Festes spüren.

„Ich hab damals einen Brief geschrieben“, sagte er plötzlich.
„An wen?“
„An ihn.“

Er nickte zu Sam.

„Hab ihn nicht abgeschickt. Aber geschrieben. Immer wieder. Jedes Jahr. So, als müsste ich’s sagen, auch wenn’s keiner liest.“

Frau Lichtenberg schwieg.

„Ich hab sie aufgehoben“, fuhr Paul fort. „Im Heim. In der Klinik. Immer im Koffer. Ich dachte, wenn ich ihn mal wiedersehe… dann liest er’s vielleicht. Oder fühlt’s.“

Er zog ein gefaltetes Stück Papier aus der Jackentasche.

„Willst du ihn hören?“
„Nein“, sagte sie. „Lies ihn ihm vor.“


Paul stand auf.

Er ging langsam zu Sam, setzte sich vorsichtig neben ihn auf den Boden, die Beine lang ausgestreckt. Lilo blinzelte kurz, rückte aber nicht weg.

Er entfaltete den Brief.

Die Ecken waren weich, der Knick in der Mitte ausgeblichen. Und dann, mit rauer Stimme, las er:

„Lieber Sam,

Ich weiß nicht, wo du bist. Vielleicht bist du längst bei einem anderen Menschen. Vielleicht rennst du durch einen Wald. Vielleicht liegst du auf einem Teppich, warm und satt. Ich hoffe es. Ich hoffe, du hast nicht gewartet.

Aber falls du wartest, will ich dir sagen: Es tut mir leid. Dass ich dich nicht mitgenommen habe. Dass ich nicht lauter war. Dass ich nicht zurückkam. Ich war nur ein Kind, Sam. Und ich hatte Angst.

Aber du hast mir beigebracht, was es heißt, jemanden nicht zu vergessen. Ich hoffe, du erinnerst dich an mich. Ich tu es. Jeden Tag.

Dein Paul.


Sam bewegte sich nicht.

Doch seine Augen waren offen. Und in ihnen lag etwas Weiches. Kein Leuchten. Kein Glanz. Eher wie ein Nebel, der langsam die Kälte aus dem Land nimmt.

Paul faltete den Brief wieder zusammen.

Dann hob Sam den Kopf. Legte ihn ganz leicht an Pauls Knie.

Es war kein Druck. Kein Zeichen.

Nur ein Gewicht. Ein Dasein.

Paul schloss die Augen.


Am Abend blieben sie lange im Hof.

Sie aßen Kartoffeln mit Quark, tranken Tee mit zu viel Zucker. Lilo bekam ein Stück Banane, das sie neugierig untersuchte, aber links liegen ließ. Sam schlief tief. Und der Himmel färbte sich rot, wie nur in Herbstnächten über den Feldern bei Leipzig.

„Er hat dir vergeben“, sagte Frau Lichtenberg schließlich.
„Nein“, antwortete Paul. „Er hat’s nie verlangt.“


In der Nacht regnete es wieder.

Aber diesmal blieb Sam in der Hütte. Und Lilo schlief direkt an seinem Rücken, eine Feder aus seinem Fell ragte noch am nächsten Morgen hervor.

Paul schlief im Gästezimmer.

Er hatte keine Tasche gepackt. Keine Zahnbürste. Nichts. Aber als er morgens aufstand, zog er sich die alten Stiefel an und kehrte mit einem Sack Streu zurück.

„Für die Hütte“, sagte er.

Und Frau Lichtenberg nickte.


Drei Tage später klopfte es am Tor.

Ein junges Mädchen stand dort, kaum zwanzig, mit rotem Rucksack und neugierigen Augen. Sie hielt ein vergilbtes Foto in der Hand – denselben Jungen mit dem Hund, das auch Paul mitgebracht hatte.

„Entschuldigung“, sagte sie. „Ist das Ihr Hund?“

Paul trat an das Tor.

Er nahm das Bild, sah es an, sah sie an.

„Nein“, sagte er. „Das war mal meiner. Jetzt gehört er keinem. Aber er vergisst nicht.“

Sie lächelte.

„Ich hab ihn damals auch gesehen. Nur einmal. Im Heim. Da war er mit Ihnen. Ich war zu jung, um’s zu verstehen. Aber ich hab ihn nie vergessen.“


Und in dieser Nacht, als der Wind durch die Kastanie strich, träumte Sam zum ersten Mal seit Jahren – und in seinem Traum rannte er, frei, mit zwei Stimmen hinter sich: einer menschlichen und einer ganz leisen, schnatternden.

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