Teil 8: Der Fremde
Er war plötzlich da.
Kein Knurren, kein Bellen. Kein Geräusch am Tor. Als hätte ihn der Wind gebracht. Graues, struppiges Fell, zerzauste Ohren, ein abgebrochener Fangzahn, der bei geschlossenem Maul sichtbar blieb. Und Augen – eine Mischung aus Glas und Asche.
Frau Lichtenberg sah ihn zuerst.
Sie trat gerade mit dem Gießkännchen aus dem Haus, wollte den Efeu an der Westwand befeuchten, als sie stehen blieb. Der Fremde saß genau vor der Hütte. Keine zwei Meter von Sam entfernt. Er bewegte sich nicht. Kein Schwanzwedeln. Kein Knurren. Er war einfach nur da. Still wie eine Erinnerung, die zu spät kam.
Paul kam sofort aus dem Schuppen, als sie rief.
Sam lag noch in seiner Hütte, den Kopf gehoben, den Blick fest auf den Neuen gerichtet. Und Lilo? Sie hatte sich dazwischen gestellt. Ganz klein. Ganz aufrecht. Ihr Hals gespannt wie eine Saite, der Schnabel zum Fremden gewandt.
„Wer bist du?“, murmelte Paul, ohne eine Antwort zu erwarten.
Der Fremde bewegte sich erst, als Paul zwei Schritte näherkam.
Da stand er auf. Langsam. Nicht alt – aber auch nicht jung. Er hinkte leicht auf dem rechten Hinterbein. Der Körper muskulös, aber eingefallen an den Flanken. Kein Halsband. Kein Zeichen von Herkunft.
Er schnupperte in die Luft. Drehte sich einmal um sich selbst. Und setzte sich dann wieder hin – diesmal etwas näher an Sam.
Keine Feindseligkeit.
Nur Nähe.
Dr. Martens kam später an diesem Tag.
Er hörte sich die Geschichte an, beugte sich vor den fremden Hund, ohne ihn zu bedrängen. Der Hund wich nicht zurück. Aber er ließ sich auch nicht anfassen.
„Ein Streuner“, sagte der Tierarzt schließlich. „Aber keiner von hier. Ich kenne jeden Hofhund im Umkreis von zehn Kilometern. Der ist neu.“
„Krank?“
„Erschöpft, eher. Und vorsichtig. Aber was auffällt…“
„Was?“
Martens sah zu Sam.
„Er wirkt… wie ein Spiegel.“
In den nächsten Tagen wich der Fremde nicht mehr vom Hof.
Frau Lichtenberg hatte ihn „Kiesel“ genannt. Weil seine Anwesenheit sich anfühlte wie ein kleiner Stein im Schuh – ungewohnt, störend, aber nicht schmerzhaft. Paul gefiel der Name nicht. Er nannte ihn einfach „den Grauen“.
Sam akzeptierte ihn.
Nicht überschwänglich. Aber ruhig. Manchmal schnupperten sie aneinander. Manchmal lagen sie Rücken an Rücken – Sam vor der Hütte, Kiesel etwas entfernt auf der schattigen Erde. Sie bellten nicht. Sie schliefen nur – wie zwei Krieger, die dieselbe Schlacht gesehen hatten, aber nie darüber sprachen.
Lilo jedoch war unentschieden.
Sie beobachtete ihn scharf. Ging nie ganz nahe. Aber sie blieb im Hof, verließ ihre Stelle nicht. Und manchmal, wenn Kiesel in ihre Richtung trat, stellte sie sich zwischen ihn und Sam, der Kopf leicht schräg, wie ein Wächter ohne Waffen.
Am dritten Tag geschah etwas Unerwartetes.
Paul saß mit einem Buch unter der Kastanie, als Kiesel sich ihm näherte. Nicht direkt, nicht fordernd – aber nah genug, dass Paul die Narbe an seiner Schulter sah. Eine alte Wunde, gezackt, tief.
„Woher hast du die?“, flüsterte er.
Kiesel setzte sich. Legte den Kopf auf die Pfoten. Und sah nicht Paul an, sondern den Himmel.
Später in der Küche zeigte Frau Lichtenberg ein altes Fotoalbum.
„Das war Sam mit einem zweiten Hund“, sagte sie. „Kurz bevor mein Mann starb.“
Sie deutete auf ein Schwarzweißbild. Zwei Hunde am Fluss. Einer schwarz, einer grau. Es war lange her. Der graue Hund hatte dieselbe Narbe. Dieselben Augen.
„Er war einmal hier“, murmelte sie.
„Dann ist er zurückgekehrt.“
Die Nächte wurden kälter. Und Kiesel schlief nicht mehr draußen.
Zuerst auf der Decke vor der Hütte. Dann, nach einem besonders kalten Abend, lag er plötzlich direkt neben Sam – und Sam ließ es zu.
Lilo wachte noch immer. Aber ihr Widerstand schwand. Vielleicht, weil sie spürte, dass Kiesel nicht nehmen wollte. Nur bleiben.
Eines Morgens, noch vor dem ersten Licht, stand Paul früh auf.
Er hörte ein leises Geräusch im Hof.
Als er die Tür öffnete, sah er, wie Sam, Kiesel und Lilo gemeinsam zur Kastanie liefen – langsam, fast feierlich. Dort blieb Sam stehen. Hob den Kopf. Und bellte. Einmal. Tief. Langgezogen.
Es war kein Warnlaut. Kein Ruf.
Es war ein Zeichen.
Später am Frühstückstisch sagte Paul:
„Sie verabschieden sich.“
„Wovon?“, fragte Frau Lichtenberg.
„Von etwas, das niemand sonst sieht.“
Sie schwieg lange. Dann sagte sie:
„Vielleicht von der Einsamkeit.“
In den Tagen danach veränderte sich Sam.
Nicht dramatisch. Aber spürbar. Er fraß langsamer. Lag mehr. Schlief tiefer. Manchmal wachte er mit einem Zucken auf, als hätte ihn etwas gerufen. Und jedes Mal stand Kiesel dann bei ihm, drückte die Schnauze sanft an seine Schulter.
Lilo wachte. Doch sie näherte sich auch Kiesel – vorsichtig, wie jemand, der beginnt, Vertrauen zu üben.
Am zehnten Tag schlief Sam den ganzen Nachmittag.
Als die Sonne unterging, lag er noch immer da. Kiesel an seiner Seite. Lilo unter seinem Bauch, leise atmend.
Und Paul, der aus dem Fenster sah, verstand plötzlich:
Der Hof war ein Übergang geworden.
Nicht ein Ort für Ankunft oder Abschied – sondern für das Dazwischen. Für das, was bleibt, wenn Treue größer ist als Zeit.
Und als in der Nacht ein leichtes Hecheln durch den Hof zog, sah Paul aus dem Fenster – und nur zwei Schatten lagen noch an der Hütte.