Die Bank am Fluss | Eine alte Schäferhündin, ein Fluss und die Enten, die Erinnerungen für immer bewahrten

🐾 Teil 4: Prozession am Ufer

Lior stand da, als hätte ihn das Wasser selbst hergebracht.
Seine Hand blieb in der Luft, doch niemand hielt die Zeit an.
Dr Ragna Fellhauer legte Mira die Finger an den Hals und sprach leise in die Stille.

Raimund Zaschke kam näher und nahm das Gewicht mit seinen Augen auf, bevor er es mit den Armen hob.
Gertrud Neschke hielt das grün graue Tuch fest, als könne Stoff eine Grenze ziehen.

Die Anweisungen waren einfach und schwer zugleich.
Mira sollte warm liegen.
Keine Stufen.
Die Tropfen für das Herz in genauem Abstand.
Heute nicht mehr lange am Fluss.

Sie legten die Decke in die Holzkarre.
Raimund schob, Gertrud ging an der Seite.
Dr Fellhauer hielt die Hand an Miras Brust, nicht die ganze Zeit, doch oft genug, damit der Rhythmus nicht aus ihrem Blick fiel.
Lior lief vornweg und schaute, ob der Kiesweg frei war.

Das Wasser stieg hörbar.
Es sprach in tieferer Tonlage.
Die Enten drängten in die Bucht zurück, alle außer dem alten Erpel.
Stipprich hielt den Rand, als gehöre ihm ein Strich des Ufers.
Er blinzelte langsam, als prüfe er die Bewegung der Menschen wie eine seltene Welle.

Die Prozession setzte sich in Gang.
Mira lag still, nur die Augen folgten Gertruds Hand.
Die Karre rollte, bis das vordere Rad im nassen Gras einsank.
Es geschah ohne Lärm.
Der Griff wurde schwer.

Raimund stemmte sich an.
Lior suchte hastig nach Steinen.
Gertrud kniete nicht, aber sie beugte sich so tief, wie es ging, und legte ihre Hand an Miras Ohr.
Die Hündin drehte minimal den Kopf, als lausche sie in eine bekannte Richtung.

Dr Fellhauer sagte ruhig, sie sollten den Weg einen halben Meter nach innen verlegen, weg von der durchnässten Kante.
Sie sprach es aus, als setze sie eine Schiene in die Luft.
Lior fand eine flache Scholle trockener Erde.
Er schob sie unter das Rad, und die Karre hob sich einen Finger breit.

In diesem Augenblick tat Stipprich etwas, das keiner erwartet hatte.
Er watschelte, ohne Hast, ein Stück neben der Karre her.
Es war kein Begleitschutz und keine Hilfe.
Es war eine Bewegung, die den Blick band und die Unruhe an einen ruhigeren Gegenstand heftete.
Mira folgte ihm mit den Augen, und das Zittern an ihrer Flanke wurde weicher.

Sie erreichten den Weg zur Holbeinstraße.
Die Rampe lag schon auf den drei Stufen, die heute wie ein Berg wirkten.
Raimund richtete den Winkel, Lior hielt die Karre, Gertrud sprach den Namen, der durch alle Jahre gleich geblieben war.
Mira glitt mit ihnen hinauf, als sei die Steigung eine Erinnerung und kein Hindernis.

Im Flur roch es nach Bohnerwachs und kühlem Stein.
Dr Fellhauer legte Mira auf den Teppich vor der Balkontür.
Sie hörte ab, schrieb Dosierungen auf, strich das Papier glatt und legte es neben die Tassen.

Ihre Stimme blieb klar.
Wenn die Atmung flacher werde, solle Gertrud anrufen.
Sie komme.
Sie komme auch nachts.

Raimund brachte die Rampe in den Hausflur.
Er sagte, er könne morgen eine schmalere Variante bauen, die leichter zu tragen sei.
Gertrud nickte.
Sie sah nicht auf die Rampe, sie sah auf die Hündin, die ihren Blick suchte, um zu wissen, wo oben war.

Als die Tür sich hinter den Helfenden schloss, wurde die Wohnung still.
Gertrud setzte sich mit dem Rücken an den Rahmen der Balkontür.
Mira atmete ruhiger, noch nicht gut, doch gebändigt.

Das grün graue Tuch lag über den Schultern der Hündin und nahm den Geruch des späten Septembers an.
Auf dem Tisch lag Günters Mütze.
Gertrud drehte sie einmal in der Hand.
Sie war überrascht, wie leicht sie war.
Leichte Dinge tragen oft die schwersten Zeilen.

Der Abend kam als matter Spiegel.
In ihm standen die Konturen der Möbel, und die Zeit hielt den Atem an.
Mira schlief mit zuckenden Pfoten.

Gertrud zählte die Abstände zwischen den Atemzügen, obwohl sie sich vorgenommen hatte, nicht zu zählen.
Irgendwann ließ sie die Hand auf dem Tuch liegen und blinzelte in die halbe Nacht.

Am Morgen trug der Flur die Kühle des Flusses in die Wohnung.
Raimund hatte angerufen.
Die Stadt werde die unteren Bänke sichern.
Der Pegel sei weiter gestiegen.

Gertrud hörte das Wort sichern wie einen Handschuh, der nicht passt.
Sie wollte hinunter.
Nicht lange, nur sehen, wie der Platz stand, der ihr die Tage ordnete.

Sie band Mira das Tuch lockerer.
Die Hündin hob sich schwer und sah die Rampe an, als erkenne sie deren Logik.
Gertrud lächelte kurz, obwohl kein Lächeln in ihr war.
Sie ging langsam, Schritt für Schritt, mit der Hand an der Leine, die heute eher ein Band war als eine Führung.

Der Uferweg war verändert.
Rot weiße Bänder markierten eine Linie.
Zwei Männer vom Bauhof lösten die Schrauben der Bank am Rand.

Sie hoben, prüften und senkten wieder.
Das Holz war schwer vom Regen.
Auf der Lehne glänzte das eingeritzte G im nassen Licht, als hätte jemand es frisch gelegt.

Stipprich tauchte an der Kante auf, als wisse er, wo Menschen sehen wollten.
Hinter ihm schwammen die Jungen kreuz und quer.
Die Strömung trug sie ein Stück und gab sie wieder her.
Es sah aus wie ein Spiel und war doch Arbeit.
Das Wasser beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit.

Gertrud blieb stehen.
Sie hob Günters Mütze und legte sie auf die Bank.
Es war ein kurzer, stiller Akt, nicht einmal ein Ritual.

Eher ein Versuch, einen Gedanken hörbar zu machen, der sonst stumm blieb.
Der Wind griff nach dem Rand.
Die Mütze glitt und fiel in das nasse Gras, rollte eine Handbreit weiter und blieb knapp vor der Kante liegen.

Lior kam angeschoben.
Er sprang vom Rad, nahm einen Ast und zog die Mütze vorsichtig zurück.
Sein Blick war ernst, nicht heldenhaft, nur wach.
Er reichte Gertrud das leichte Stück Stoff.
Sie nickte und hielt es einen Augenblick zu lang fest.

Raimund trat zu den Männern vom Bauhof.
Er sprach mit ruhiger Stimme.
Die Bank müsse für zwei Tage nach oben.

Er deutete auf das G und sagte, er markiere die Position, damit sie wieder an ihren Platz zurückkehre.
Er holte Kreide und zeichnete ein kleines Zeichen an die Unterseite.
Es sah aus wie ein Pfeil, doch es zeigte nicht weg.
Es zeigte zurück.

Mira atmete schneller.
Gertrud kniete so tief, wie ihre Hüfte es zuließ, und legte eine Hand auf die Brust der Hündin.
Sie spürte das Heben und Senken, spürte die Mühe darin wie feinen Sand.

Dr Fellhauer hatte von Momenten gesprochen, in denen der Körper eine Pause fordere, die man ihm geben müsse.
Gertrud hätte gern die Zeit gebeten, sich hinzusetzen.

Die Männer lösten die letzten Schrauben.
Die Bank hob sich um zwei Finger breit.
Das Holz knarrte.
In dem Geräusch lag eine Erinnerung an trockene Tage.
Stipprich drehte den Kopf und blickte hinüber, als erwarte er eine Geste.

Gertrud strich über die Lehne, als läse sie ein altes Foto.
Ihre Finger folgten dem G, das unter Wasserlicht neu wirkte.
Dann geschah etwas, das keiner im Plan hatte.

Mira setzte einen Schritt nach vorn, obwohl niemand sie bat.
Sie wollte die Bank erreichen, die ihr Takt gewesen war.
Der zweite Schritt brach in der Mitte ab.
Die Hinterhand sochte Halt, fand ihn nicht, und der Atem stockte.

Lior ließ den Ast fallen.
Raimund drehte sich um und war in einem Zug bei ihnen.
Die Männer hielten die Bank in der Luft.

Niemand sprach.
Gertrud hielt Miras Kopf und suchte den kleinen Wirbel am Hals.
Sie fand ihn.
Sie hatte ihn immer gefunden.

Stipprich stieg aus dem Wasser und kam zwei Schritte in das nasse Gras.
Er blieb dort, als sei diese Grenze neu gezogen und nur für einen Augenblick gültig.
Hinter ihm schwieg das Wasser für einen Herzschlag.
Dann setzte die Strömung wieder ein und erzählte weiter.

Gertrud flüsterte den Namen.
Nicht bittend, nicht befehlend.
Nur so, dass der Klang den Weg zwischen zwei Wesen fand, die einander nicht erklären mussten, warum sie da waren.

Miras Brust hob sich, blieb kurz oben und suchte den Abstieg.
Die Luft kam nicht sofort.
Es wurde eng.

Dr Fellhauer war nicht da.
Ihr Zettel lag auf dem Küchentisch.
Das Telefon war in der Manteltasche.
Gertrud spürte, wie die Welt in einen schmalen Tunnel rückte, in dem nur noch eine Frage Platz hatte.

Raimund sagte leise, er laufe zum Wagen und hole die Decke.
Lior legte seine Hand an Miras Schulter, so behutsam, als wäre Berührung ein Glas, das nicht anstoßen durfte.

Die Bank schwebte noch in den Händen der Männer.
Das G glänzte.
Das Wasser kroch näher.

Mira öffnete die Augen und suchte Gertruds Blick.
Sie fand ihn und hielt ihn fest.
Es war, als würfe der Fluss in diesem Moment sein Licht auf zwei Gesichter, die einander seit Jahren kannten.
Gertrud beugte sich tiefer, bis ihre Stirn Miras Stirn berührte.

Dann setzte der nächste Atemzug an.
Er kam von weit her.
Er brauchte einen Weg.
Die Sekunden standen wie Steine in einem Bach.

Und noch bevor die Luft die richtige Tiefe fand, ertönte von der Fähre her ein Horn, das über das Wasser rollte und alle Geräusche überlagerte.

Der Atem blieb einen Moment aus.

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