Die Bank am Fluss | Eine alte Schäferhündin, ein Fluss und die Enten, die Erinnerungen für immer bewahrten

🐾 Teil 6: Die Nacht und der Ruf

Der Kopf der Hündin lag noch immer auf der Schwelle, als sie ihn plötzlich drehte.
Es war keine große Bewegung, eher ein Lauschen in eine Richtung, die niemand außer ihr vernahm.

Gertrud hielt inne, die Hände noch am Geländer, und wagte nicht zu sprechen.
Miras Ohren zuckten leicht, als lauschten sie auf ein Geräusch, das sich nicht im Hof befand, sondern irgendwo tiefer in der Luft.
Dann öffnete die Hündin die Augen, groß und wach, als sei ein Faden gespannt, den nur sie sehen konnte.

Gertrud kniete sich mühsam neben sie.
Ihre Hände lagen auf dem Tuch, das die Schultern der Hündin bedeckte.
Sie spürte die Wärme darunter, aber auch das Zittern, das langsam zurückkehrte.
Sie sprach leise den Namen, nur ein einziges Mal.
Die Augen der Hündin wandten sich ihr zu, und darin lag eine stille Bitte, die nicht in Worte passte.

Im Hof regten sich die Enten.
Stipprich hob den Kopf und schlug mit den Flügeln, als wolle er den Himmel aufscheuchen.

Das Licht der Laterne fiel auf sein schiefes Profil, und für einen Moment wirkte er wie ein Wächter einer unsichtbaren Schwelle.
Die jungen Tiere drängten sich aneinander, stiller als sonst, und hielten den Blick auf die offene Tür gerichtet.
Gertrud verstand, dass Tiere Dinge ahnten, die Menschen zu spät erkannten.

Der Atem der Hündin ging flacher.
Gertrud legte ihre Stirn an die Flanke, spürte das schnelle Heben und Senken.
In ihr stieg Panik auf, die sie mit aller Kraft zurückdrängte.
Sie wollte nicht schreien, wollte nicht, dass Mira den Bruch in ihrer Stimme hörte.

Stattdessen summte sie leise eine Melodie, die Günter früher auf der Mundharmonika gespielt hatte.
Es war kein Lied mit Namen, nur eine Folge von Tönen, die immer wieder zu ihr zurückgekommen waren.

Mira schloss die Augen.
Ihr Atem wurde ruhiger, als lausche sie dieser alten Melodie.
Die Zuckungen in den Pfoten ließen nach, und ihre Muskeln entspannten sich.
Für einen Moment sah es aus, als finde sie Frieden.
Doch plötzlich stockte der Atem erneut, und der Körper zog sich kurz zusammen.

Gertrud rief nach Lior.
Der Junge stürzte herauf, das Gesicht bleich, die Hände fest um den Geländerstab geklammert.
Er fragte nicht, sondern setzte sich sofort neben die Hündin.
Seine Finger legten sich vorsichtig auf den Kopf, und er flüsterte etwas, das Gertrud nicht verstand.
Es war leise, wie eine Sprache, die nur Kinder und Tiere teilen.

In diesem Augenblick hörte man Schritte auf dem Hof.
Raimund war zurückgekehrt, obwohl niemand ihn gerufen hatte.
Er hatte ein altes Kissen dabei, das er unter Miras Kopf schob.

Seine Augen trafen Gertruds, und darin lag das Wissen, dass er um mehr wusste, als er sagte.
Sie nickte, und dieses Nicken war schwerer als jedes Wort.

Der Himmel draußen war schwarz geworden.
Die Elbe rauschte lauter, als erzähle sie Geschichten von Bergen, die keiner hier gesehen hatte.

Das Wasser trug ein Flackern von Lichtern, Spiegelbilder der Fähre, die nun am anderen Ufer festmachte.
Das Horn war verstummt, doch das Echo lebte in der Brust.
Gertrud spürte, wie ihr Atem sich daran heftete, unsicher und doch fest.

Dr Fellhauer war noch unterwegs, sie hatte es angekündigt.
Doch die Minuten dehnten sich, als wären sie Stunden.

Gertrud fühlte, dass jedes Zögern ein Gewicht war, das Mira trug.
Sie legte die Hand fester auf die Flanke, um das Zittern zu teilen.
Es war ein kindisches Gefühl, als könne man Last durch Berührung halbieren, und doch hielt sie daran fest.

Die Enten unten im Hof blieben reglos.
Nur Stipprich machte eine langsame Bewegung, als schreite er unsichtbar eine Linie ab.

Gertrud beobachtete ihn und sah zum ersten Mal etwas von Ruhe in diesem unruhigen Vogel.
Es war, als wolle er zeigen, dass auch zittrige Schritte eine Ordnung haben.
Mira öffnete die Augen noch einmal und folgte ihm mit dem Blick.

Da klopfte es leise an der Tür.
Dr Fellhauer trat ein, der Mantel feucht, die Haare vom Regen glänzend.

Sie kniete sofort nieder, prüfte den Puls, hörte die Brust ab.
Ihre Stirn zog sich kurz zusammen, dann sprach sie leise: Mira sei sehr schwach, es könne jede Stunde sein.
Gertrud nickte, und Lior sog die Luft ein, als müsse er das Gewicht dieser Worte in sich aufnehmen.

Die Tierärztin zog eine kleine Spritze, um den Atem zu erleichtern.
Sie setzte sie an und strich der Hündin über den Kopf.
Es war eine Geste, die mehr als Medizin war.

Mira seufzte tief, und für einen Moment wirkte es, als hätte die Luft wieder mehr Platz in ihr.
Gertrud flüsterte danke, ohne zu wissen, ob sie die Ärztin meinte oder das Tier.

Die Minuten danach waren still.
Die Uhr im Wohnzimmer tickte, und draußen schlug eine Böe gegen die Mauer.
Die Enten hatten sich nicht fortbewegt, sie standen noch immer im Hof.

Lior legte den Kopf an Miras Schulter, und Gertrud sah, wie ernst sein junges Gesicht geworden war.
Es erinnerte sie an Günter in den ersten Monaten ihrer Ehe, wenn er etwas tragen musste, das größer war als er.

Raimund stellte sich an die Tür und hielt Wache, ohne ein Wort.
Dr Fellhauer setzte sich auf die Stuhlkante und wartete, als sei Geduld ein Teil ihrer Arbeit.
Die Nacht schob sich tiefer in den Raum, bis nur noch die Lampe auf dem Küchentisch ein warmes Licht warf.

Gertrud hielt Miras Kopf und summte die alte Melodie weiter, als wolle sie die Brücke nicht abbrechen lassen.
Die Hündin atmete, leise, regelmäßig, aber jedes Mal, als könnte es auch das letzte sein.

Dann geschah etwas Seltsames.
Von draußen, vom Hof, kam ein Laut, den Gertrud noch nie von den Enten gehört hatte.

Es war kein Quaken, eher ein tiefes, kehliges Rufen, fast wie ein Horn in klein.
Die Tiere bewegten sich dabei kaum, nur ihre Hälse reckten sich, und der Ton hielt an, bis er sich in der Nacht verlor.
Alle im Raum sahen zum Fenster, auch Mira öffnete die Augen.

Gertrud hatte das Gefühl, als hätte sich ein Tor geöffnet, unsichtbar und doch spürbar.
Sie drückte den Kopf der Hündin sanft an ihre Brust.
Ihre Lippen formten wieder den Namen, und diesmal war es, als fiele er in dieses unsichtbare Tor.

Miras Atem setzte kurz aus, dann kam er zurück, tiefer als zuvor.
Ihre Augen blieben wach, als lauschten sie in eine Ferne, die keiner hier betreten konnte.

Dr Fellhauer legte eine Hand auf Gertruds Arm.
Sie sagte nichts, aber in ihrem Blick lag das Wissen, dass die Stunde näher rückte.
Gertrud nickte kaum merklich.
Sie hatte keine Kraft für Worte.
Sie hatte nur die Wärme ihrer Hände und den Klang, den das Tier suchte.

Draußen begann es zu regnen, feine Tropfen, die auf das Pflaster fielen.
Sie klangen wie eine Begleitung zu dem Atem, der noch ging.
Gertrud hörte zu, und plötzlich war es, als sei jeder Tropfen eine Zählung, die Mira entlastete.
Der Rhythmus wurde langsamer, aber er war da.
Die Nacht hielt den Atem an, als lausche sie mit.

Und als der Regen dichter wurde, öffnete Mira ein letztes Mal die Augen.
Sie richtete den Blick nicht auf Gertrud, nicht auf Lior, nicht auf die Ärztin.
Sie schaute zum Fenster, dorthin, wo die Enten noch immer standen.
Dann senkte sie den Kopf tiefer in Gertruds Arme.
Ihr Atem blieb stehen, und die Stille wurde schwer.

Gertrud schloss die Augen, und die Melodie in ihrem Kopf brach nicht ab.
Sie summte weiter, als könne sie die Leere überbrücken.
Die Hände der Ärztin lagen beruhigend auf ihrer Schulter.
Raimund senkte den Kopf, Lior weinte leise.
Und draußen im Regen erhob Stipprich den Hals und stieß erneut dieses tiefe, unirdische Rufen aus.

Es war ein Abschied, den niemand geplant hatte.

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