Die Bank am Fluss | Eine alte Schäferhündin, ein Fluss und die Enten, die Erinnerungen für immer bewahrten

🐾 Teil 7: Der Morgen danach

Die Nacht war lang gewesen.
Gertrud hatte nicht geschlafen, sondern nur gesessen, den Rücken an den Türrahmen gelehnt, Miras Kopf in ihrem Schoß.

Die Lampe über dem Küchentisch war ausgebrannt, und das Zimmer lag in einem Zwielicht, das nicht Tag und nicht Nacht war.

Es roch nach Regen, nach Bohnerwachs und nach dem Fell, das nun keine Wärme mehr zurückgab.
Der Atem, den sie so lange gezählt hatte, war verklungen, und dennoch lauschte sie noch immer, als könne ein neuer Takt einsetzen.

Lior war irgendwann auf dem Teppich eingeschlafen, den Kopf gegen die Decke gelehnt, die über Miras Körper lag.
Seine Wangen waren feucht gewesen, doch der Schlaf hatte die Tränen getrocknet.

Raimund hatte Wache gehalten, still an der Tür, bis er merkte, dass sein Dasein nicht länger gebraucht wurde.
Er hatte einen Zettel auf den Küchentisch gelegt: Wenn du mich brauchst, ich bin in der Nähe.
Die Tür war leise ins Schloss gefallen, doch Gertrud hörte den Schritt im Hof noch lange nach.

Draußen war der Regen schwächer geworden.
Die ersten Vögel riefen, vorsichtig, als prüften sie, ob der Morgen ihnen gehörte.
Gertrud erhob sich langsam, die Gelenke steif, der Rücken schwer.
Sie legte die Hand auf das Tuch, das über Mira lag, und strich es glatt.
Das Fell darunter war kalt, aber weich, als sei die Zeit stehen geblieben.

Sie öffnete die Balkontür.
Im Hof stand Stipprich noch immer, regungslos, als habe er die ganze Nacht gewartet.

Die jungen Enten lagen zusammengedrängt im Gras, die Köpfe unter den Flügeln.
Nur er sah auf, als die Tür sich öffnete, und neigte den Kopf, so wie am Fluss, wenn er Gertrud wiedererkannte.
Sie hob eine Hand, langsam, und fühlte, wie der Morgen sie durchströmte.

Lior wachte auf und rieb sich die Augen.
Er sagte kein Wort, sondern sah nur auf die Hündin, dann auf Gertrud.

Sein Blick war ernst, schwerer als sein Alter erlaubte.
Sie streichelte ihm über den Kopf und murmelte: Geh nach Hause, Junge, deine Mutter wartet.
Doch er schüttelte den Kopf und blieb sitzen, als wolle er Teil dessen sein, was noch geschehen musste.

Gegen acht Uhr klopfte es an der Tür.
Dr Fellhauer trat ein, das Gesicht müde, doch voller Mitgefühl.
Sie kniete sich erneut nieder, überprüfte behutsam, was längst sicher war.

Dann legte sie ihre Hand auf Gertruds Arm und sprach mit leiser Stimme: Sie ist gegangen, still und ohne Schmerz.
Gertrud nickte, die Tränen sammelten sich, aber sie flossen nicht.
Sie fühlte sich leer, als habe die Welt ihr Innerstes ausgespült.

Die Ärztin sprach von einer kleinen Zeremonie, einem Abschied, den auch Tiere verdienen.
Sie könne helfen, Mira zu einer Tierbestattung zu bringen, dort, wo ein Stück Wiese sei, geschützt von alten Bäumen.

Gertrud hörte die Worte, doch sie blieben fern.
In ihr war nur der Gedanke an die Bank am Fluss, den Platz, der ihr Leben getragen hatte.
Dort war der Rhythmus, dort war die Erinnerung.

Am Vormittag kam Raimund zurück.
Er hatte Blumen in der Hand, Astern und Dahlien aus dem Garten seiner Frau.
Sein Blick fiel auf Mira, und er verneigte leicht den Kopf, als grüße er eine Königin.
Dann stellte er die Blumen auf den Tisch, ohne etwas zu sagen.
Manche Gesten brauchen keine Sprache.

Gemeinsam hoben sie Mira auf die Decke und trugen sie hinaus.
Gertrud ging voraus, das grün graue Tuch über den Schultern, als Zeichen, das nur sie verstand.

Der Hof war still.
Die Enten bewegten sich nicht, bis auf Stipprich, der zwei Schritte näher kam und stehen blieb.
Es war, als begleite er die kleine Prozession, unsichtbar, aber spürbar.

Der Weg zum Fluss war kurz, doch an diesem Morgen schien er unendlich.
Jeder Kiesel knirschte unter den Schuhen, als zählte er die Schritte.

Gertrud hielt den Blick aufrecht, doch in ihr war eine Schwere, die sie beugte.
Am Ufer stand die Bank nicht mehr, sie war noch immer oben auf der Wiese.
Nur der Abdruck im Gras blieb zurück, ein heller Schatten, wo Holz gestanden hatte.

Sie legten Mira dort ab, wo sonst ihre Pfoten geruht hatten.
Die Enten schwammen heran, Stipprich vorneweg, und bildeten einen Halbkreis am Rand.
Das Wasser bewegte sich leise, wie eine Hand, die tröstet.

Gertrud setzte sich auf den Boden, den Rücken gegen den Stamm der Weide, und legte die Hände in den Schoß.
Sie sprach kein Gebet, sie summte nur wieder die alte Melodie, die ihr Mann gespielt hatte.
Die Töne trugen den Abschied, ohne dass sie ihn benennen musste.

Lior stand neben ihr, die Arme verschränkt, und starrte auf die Hündin.
Er wirkte, als versuche er, sich jede Linie, jedes Haar einzuprägen.
Dann griff er in seine Tasche und zog ein kleines Holzstück hervor.

Mit einem Taschenmesser ritzte er ein Zeichen hinein, unbeholfen, aber ernsthaft.
Er legte es neben Mira und sagte leise: Damit sie bleibt.
Gertrud legte ihre Hand auf seine Schulter und nickte.

Die Stunden vergingen.
Die Männer vom Bauhof kamen vorbei, grüßten respektvoll und gingen weiter, ohne etwas zu fragen.

Der Fluss stieg noch immer, doch sein Klang war weich geworden, weniger bedrohlich.
Die Sonne kämpfte sich durch die Wolken und legte einen goldenen Schimmer auf das Fell der Hündin.
Gertrud sah es und dachte, dass Abschiede manchmal wie Morgen aussehen.

Am frühen Nachmittag machten sie sich auf den Rückweg.
Dr Fellhauer hatte sich um alles Weitere gekümmert, doch sie drängte nicht.
Sie ließ Gertrud Zeit, jeden Schritt bewusst zu gehen.

Raimund schob die leere Karre, die nun schwerer wirkte als am Tag zuvor.
Lior lief langsam, die Hände in den Taschen, den Kopf gesenkt.

Im Hof standen die Enten noch immer.
Als die Tür ins Schloss fiel, lösten sie sich und glitten zurück zur Elbe, als hätten sie ihre Aufgabe erfüllt.

Stipprich drehte den Kopf ein letztes Mal zur Wohnung, dann tauchte er ab und verschwand unter der Wasseroberfläche.
Gertrud sah es aus dem Fenster und spürte, dass etwas abgeschlossen war.
Doch die Leere blieb.

Am Abend saß sie allein in der Wohnung.
Das Tuch lag gefaltet auf dem Stuhl, Günters Mütze hing am Haken.

Sie fühlte sich, als sei sie selbst ein Schatten, der neben den Dingen existierte.
Sie machte keinen Tee, sie las nicht, sie schrieb nichts.
Sie saß nur da und hörte, wie der Fluss in der Ferne rauschte.

In der Nacht träumte sie.
Sie saß wieder auf der Bank, das Wasser ruhig, die Weide im Wind.
Neben ihr lag Mira, jung und kräftig, das Fell glänzend, die Augen voller Leben.

Die Enten schwammen heran, lautlos, und bildeten einen Kreis.
Stipprich flog kurz auf, setzte sich auf die Lehne der Bank und neigte den Kopf.
Dann verschmolz das Bild mit dem Rauschen des Flusses, und Gertrud erwachte mit feuchten Wangen.

Der Morgen brachte Kälte.
Sie stand am Fenster und sah hinunter in den Hof.
Die Enten waren nicht da.
Nur ein einzelnes Blatt klebte am Zaun, gelb und zitternd.

Gertrud legte die Hand auf das Glas und flüsterte: Ich komme.
Sie wusste, dass sie zurück zum Fluss musste, auch wenn die Bank noch fehlte.

Die Leere im Zimmer blieb, doch draußen wartete etwas, das nicht leer war.
Und als sie die Tür öffnete, hörte sie im Wind das ferne Rufen der Enten, ein Klang, der wie ein Versprechen klang.

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