Die Bank am Fluss | Eine alte Schäferhündin, ein Fluss und die Enten, die Erinnerungen für immer bewahrten

🐾 Teil 9: Die Bank kehrt zurück

Der Morgen nach dem Traum war hell. Der Regen hatte den Himmel gewaschen, und die Elbwiesen glänzten, als habe jemand sie mit Glas überzogen. Gertrud zog das Tuch enger um die Schultern und machte sich auf den Weg.

Jeder Schritt war schwer, doch sie fühlte die Gewissheit, dass sie gehen musste. Der Fluss rief sie, leise, beharrlich, wie ein Lied, das man nicht abschalten kann.

Als sie den Uferweg erreichte, sah sie sofort, dass die Männer vom Bauhof wieder da gewesen waren. Die Bank stand nicht mehr oben auf der Wiese, sondern wieder an ihrem alten Platz, am Fuß der Weide, dicht am Wasser.

Das Holz war frisch verschraubt, die Lehne glänzte noch feucht vom Morgentau. Sie blieb stehen und spürte, wie ihr die Luft stockte. Es war, als habe jemand ein verlorenes Stück Herz zurückgebracht.

Langsam ging sie näher. Ihre Finger tasteten das G, das eingeritzt war wie eine Narbe, die nicht heilte und doch trug. Sie setzte sich, vorsichtig, als könnte das Holz zerbrechen. Doch die Bank hielt, so wie sie es immer getan hatte. Der Fluss rauschte, die Fähre legte ab, und das Leben setzte seinen Rhythmus fort.

Ein Rascheln im Wasser kündigte die Enten an. Sie kamen in geordneter Unordnung, als wüssten sie, dass heute etwas Wichtiges geschah. Stipprich führte sie, sein Kopf erhoben, die Schramme am Schnabel im Sonnenlicht deutlich sichtbar.

Er schwamm nah ans Ufer und blieb still, die Augen auf Gertrud gerichtet. Sie streute Körner ins Gras, und er wagte sich wieder zwei Schritte auf das Land. Ihr Herz schlug schneller, doch diesmal war es kein Schmerz, sondern eine stille Freude.

Lior tauchte kurze Zeit später auf. Er schob sein Rad, auf dem Gepäckträger lag ein kleines Bündel. Er hatte Holzreste gesammelt, sagte er, und wollte ein Schild bauen. Ein Schild für die Bank, damit jeder wisse, dass hier ein besonderer Ort sei.

Gertrud sah ihn lange an, gerührt von der Ernsthaftigkeit in seinem jungen Gesicht. Sie nickte, und ihre Stimme war brüchig, als sie sagte: Ja, wir schreiben ihren Namen.

Zusammen suchten sie eine Stelle an der Seite der Bank. Lior nahm sein Messer, schnitzte Buchstaben, unbeholfen, aber aufrichtig. M I R A. Die Buchstaben waren schief, die Linien uneben, doch gerade darin lag Wahrheit. Gertrud legte ihre Hand darüber, und für einen Moment fühlte sie, als sei die Hündin selbst zurückgekehrt.

Raimund kam hinzu, mit seiner schweren Gärtnerjacke und einem Korb voll Äpfel. Er stellte ihn wortlos ab, setzte sich auf den Rand der Bank und sah auf den Fluss.

Dann sagte er leise: Manche Orte brauchen Namen, um nicht zu verschwinden. Er sah auf das frische Schild und nickte. Es war, als habe er damit ein stilles Versprechen gegeben.

Die Sonne wanderte, und der Schatten der Weide fiel über sie. Gertrud erzählte von den Tagen mit Mira, von den Sommern, den Wintern, den stillen Abenden, in denen die Bank ihr Halt gewesen war.

Lior hörte aufmerksam zu, und Raimund nickte hin und wieder, als sei jede Geschichte ein Samen, den man in die Erde legte. Die Enten blieben währenddessen nah, als lauschten auch sie.

Am Nachmittag kam ein älteres Ehepaar vorbei, das Gertrud nur vom Sehen kannte. Sie blieben stehen, lasen das neue Schild und fragten nicht viel.

Die Frau legte eine Hand auf Gertruds Schulter und sagte: Schön, dass sie hier bleibt. Es war, als hätte die Bank in dieser Stunde etwas gewonnen, das über den privaten Schmerz hinausging. Sie war zu einem Ort geworden, der Erinnerung trug, nicht nur für eine, sondern für viele.

Als die Sonne tiefer sank, nahm der Fluss eine dunklere Farbe an. Das Wasser rauschte lauter, die Fähre legte abermals ab, und ein Horn drang über die Elbe. Gertrud erschrak kurz, denn der Ton erinnerte sie an die Nacht, in der Mira gegangen war.

Doch diesmal war es anders. Der Klang trug keine Bedrohung, sondern einen Gruß. Es war, als würde der Fluss selbst sagen: Sie gehört jetzt hierher.

Die Enten hoben gleichzeitig die Köpfe, als hätten sie es ebenfalls verstanden. Stipprich schlug mit den Flügeln, setzte sich ein Stück in Bewegung und schwamm dann zurück in die Bucht.

Sein Bild im Wasser zerbrach in Ringen, die langsam breiter wurden und schließlich das ganze Ufer erreichten. Gertrud sah zu, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie nicht zurückhielt.

Raimund erhob sich, legte die Hand an die Lehne und sagte: Ich kümmere mich darum, dass sie hier bleibt. Niemand wird diese Bank versetzen, solange wir da sind.

Gertrud nickte, unfähig zu sprechen, doch sie wusste, dass er es ernst meinte. Lior legte sein Messer beiseite, sah auf die geschnitzten Buchstaben und flüsterte: Jetzt kennt jeder ihren Namen.

Die Luft wurde kühler, die ersten Nebelschwaden krochen wieder aus der Bucht. Gertrud zog das Tuch enger, erhob sich langsam und legte die Hand noch einmal auf das G und auf die neuen Buchstaben daneben. Sie fühlte, wie alt und neu ineinanderflossen, Vergangenheit und Gegenwart, Verlust und Trost.

Als sie den Heimweg antrat, blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um. Die Bank stand da, fest, unbeweglich, und doch lebendig durch die Geschichten, die sie trug.

Am Ufer glitt eine leise Bewegung durchs Wasser, und für einen Atemzug meinte Gertrud, sie höre das Geräusch von Pfoten auf Kies. Sie lächelte schwach und ging weiter.

In der Nacht träumte sie erneut von Mira. Doch diesmal war die Hündin nicht jung, nicht voller Kraft. Sie war alt, so wie in den letzten Tagen, und sie lag auf der Bank, friedlich, während die Enten um sie schwammen. Gertrud saß daneben, und sie spürte, dass der Traum kein Abschied mehr war, sondern ein Ankommen.

Als sie erwachte, war der Morgen noch fern. Sie sah zum Fenster hinaus, der Hof war still. In ihrem Inneren aber war etwas leichter geworden. Sie wusste, dass der Weg weiterging, dass der Schmerz bleiben würde, aber auch, dass er getragen wurde. Die Bank war wieder da, und mit ihr ein Stück Mira.

Und während draußen die ersten Vögel sangen, formte Gertrud in Gedanken einen Satz, der sie durch den Tag tragen sollte: Manche Orte erinnern für uns, wenn wir selbst zu müde geworden sind.

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