🐾 Teil 10: Der stille Neubeginn
Der Herbst hatte die Elbwiesen fest in seine Hände genommen. Morgens lag feiner Nebel über den Feldern, und die Bäume am Ufer färbten sich golden und rot. Gertrud zog den Schal enger und ging den vertrauten Weg zur Bank. Die Schritte klangen auf dem Kies, als zählten sie etwas, das längst verloren war und doch weiterlebte.
Die Bank stand wieder an ihrem alten Platz, fest verschraubt, als sei sie nie versetzt worden. Auf der Lehne glänzte das eingeritzte G, und darunter prangten die schiefen Buchstaben, die Lior geschnitzt hatte. MIRA.
Der Name sah unbeholfen aus und war gerade deshalb schöner als jede Gravur aus Stein. Gertrud strich darüber, spürte die rauen Kanten und ließ die Finger nicht sofort los.
Die Enten kamen wie immer. Ihr Trupp war kleiner geworden, einige waren fort, vielleicht zum Winterzug, doch Stipprich war noch da. Sein schiefer Schnabel glänzte matt im Licht, und er schwamm näher ans Ufer, als wolle er nachsehen, ob sie wirklich da war.
Gertrud warf Haferflocken ins Gras, und er trat wieder zwei Schritte heraus, vorsichtig, aber entschlossen. Es war, als hätten sie eine stille Übereinkunft geschlossen.
Sie setzte sich und atmete tief durch. Der Fluss rauschte, die Fähre legte an, und für einen Augenblick meinte sie, Miras Kopf an ihrem Knie zu spüren, schwer und vertraut. Ein Lufthauch bewegte das Tuch auf ihrer Schulter, und sie lächelte leise, ohne es zu merken. Erinnerung konnte Schmerz sein, aber sie konnte auch Wärme werden.
Gegen Mittag kam Raimund den Weg herauf. Er hatte einen neuen Korb Äpfel dabei, diesmal rot und glänzend, wie kleine Laternen. Er stellte sie neben die Bank und setzte sich. Lange sagten sie nichts.
Dann meinte er, dass er gestern Abend am Fluss gestanden und das Horn der Fähre gehört habe. Es habe sich angefühlt wie ein Gruß. Gertrud nickte. Sie wusste, dass er recht hatte. Manche Töne trugen mehr als Geräusche.
Ein wenig später kam auch Lior. Er hatte ein Stück Papier dabei, auf dem er Mira mit krakeligen Linien gezeichnet hatte, die Beine zu lang, der Kopf schief, aber die Augen voller Leben. Er legte die Zeichnung auf die Lehne, und der Wind flatterte daran, als wolle er sie mitnehmen.
Gertrud hielt sie fest, strich über die Linien und spürte ein Ziehen im Herzen. Sie dankte ihm mit leiser Stimme. Der Junge nickte ernst, als habe er eine Pflicht erfüllt.
Die Sonne sank tiefer, und die Schatten der Weide legten sich wie ein Mantel über sie. Gertrud erzählte von Günter, von den frühen Jahren, von den Spaziergängen mit Mira im Winter, wenn der Fluss gefroren war.
Lior hörte aufmerksam zu, Raimund nickte hin und wieder. Es war kein Gespräch, das laute Antworten verlangte. Es war Erzählen, um nicht zu vergessen.
Als die Dämmerung kam, stand der Himmel in Rosa und Violett. Die Enten zogen sich in die Bucht zurück, nur Stipprich blieb noch einen Moment. Er neigte den Kopf, als verabschiede er sich, und glitt dann ins Wasser zurück.
Gertrud sah ihm nach, und sie wusste, dass auch dieser Anblick eines Tages Erinnerung sein würde. Doch im Augenblick fühlte er sich an wie Trost.
Sie blieb noch sitzen, bis die erste Laterne am Weg aufleuchtete. Das Licht fiel weich auf die Bank und auf die Buchstaben des Namens. MIRA. Der Fluss rauschte, und die Welt war still.
Gertrud legte die Hände in den Schoß und schloss die Augen. Vor ihrem inneren Bild sah sie die Hündin, nicht jung, nicht alt, sondern so, wie sie sein sollte: friedlich, an ihrer Seite, die Augen voller Treue.
Auf dem Heimweg blieb sie stehen und blickte zurück. Die Bank stand fest, die Weide rauschte, und der Fluss trug das Licht davon. Es war kein Abschied, nicht mehr. Es war ein Weitergehen, ein neues Kapitel, das nicht aus Vergessen bestand, sondern aus Erinnerung, die Leben wurde.
In der Wohnung legte sie die Äpfel in eine Schale und stellte die Zeichnung Liors an die Wand. Günters Mütze hing am Haken, das Wolltuch lag auf dem Stuhl.
Alles hatte seinen Platz, so wie die Bank ihren Platz zurückbekommen hatte. Die Leere war noch da, doch sie fühlte sich leichter an. Sie war kein Abgrund mehr, sondern ein Raum, in dem Bilder lebten.
In dieser Nacht träumte Gertrud wieder. Sie saß auf der Bank, und Mira lag neben ihr. Die Enten schwammen im Kreis, und Stipprich stand auf der Lehne, der Kopf geneigt. Der Fluss rauschte, und aus dem Rauschen wurde ein Lied, leise und klar. Sie lauschte, und im Traum wusste sie, dass sie nie allein sein würde.
Als sie erwachte, war der Morgen noch fern. Doch sie spürte eine Wärme in sich, die blieb. Sie ging zum Fenster, sah den stillen Hof und flüsterte: Danke. Es war kein Dank an jemanden Bestimmten, sondern an das Leben selbst, das trotz allem weiterging.
Und während draußen die ersten Vögel sangen, wusste Gertrud, dass die Bank am Fluss nun mehr war als Holz. Sie war Erinnerung, Trost, und Anfang zugleich. Ein Ort, an dem das Vergangene ruhte und das Gegenwärtige atmete. Ein Ort, der ihr erlaubte, weiterzugehen, ohne loszulassen.
Die Elbe rauschte, die Weide rauschte, und in dieser doppelten Melodie lag ein Frieden, der sie trug. Gertrud schloss die Augen, und ihr letzter Gedanke, bevor der Tag begann, war still und klar: Mira bleibt.