Die Bank im Regen | Ein alter Hund, eine Bank im Regen und das Geheimnis, das niemand vergessen konnte

🐾 Teil 4: Das verschwundene Mädchen

(Litzendorf, 20. Mai 2024)

Das Haargummi lag auf dem Küchentisch wie ein fremdes Relikt.
Rosa, leicht verdreckt, mit einer kleinen, abgebrochenen Plastikblume. Kinderkram.
Nichts, was in Johanna Feldmanns Haus gehört hätte. Und doch lag es nun da gebracht von einem alten Hund, der nicht sprach, aber Dinge erzählte.

Mika lag unter dem Tisch. Sein rechtes Vorderbein war verbunden – notdürftig mit einem Streifen ihres alten Betttuchs. Er ließ es sich gefallen. Keine Gegenwehr. Nur dieser ruhige Blick, der alles sah.

Johanna streichelte ihm kurz über den Kopf.
„Woher, Mika? Wer hat das getragen?“

Der Hund zuckte nicht.
Doch in seinen Augen war etwas: Unruhe. Erinnerung vielleicht. Oder Schuld.


Am Vormittag ging Johanna zum Briefkasten.
Es war der erste Tag seit Wochen, an dem sie die Haustür abgeschlossen hatte. Nur für zehn Minuten. Aber sie mochte es nicht.

Als sie zurückkam, saß Fleck im Flur und jaulte leise. Mika lag daneben, wachsam, das verletzte Bein ausgestreckt. Alles still. Und doch… irgendwas in der Luft war anders.

Sie schaltete das Radio ein, wie jeden Morgen. BR Heimat, Nachrichten um halb zehn.

„…in der Nachbargemeinde Strullendorf wird weiterhin ein vermisstes Kind gesucht. Die dreijährige Emma K., blond, zuletzt gesehen auf dem Spielplatz am Waldrand. Die Polizei bittet um Hinweise aus der Bevölkerung…“

Johannas Finger verkrampften sich am Brotmesser.
Sie drehte sich zu Mika.
Er lag da und starrte.
Nicht sie an. Sondern das Haargummi.


Sie rief bei der Polizei an.

Nicht den Notruf. Die Dienststelle in Bamberg.
Eine junge Stimme nahm ab. Höflich, müde.

„Guten Morgen… äh… mein Name ist Feldmann, Johanna. Ich wohne in Litzendorf, am Ortsrand. Ich habe vielleicht… also, mein Hund… na ja, ein Hund hat gestern ein Haargummi gebracht. Rosa. Mit Blume.“

Kurze Pause.

„Und ich habe gehört, dass ein Mädchen…“

Die Stimme am anderen Ende wurde plötzlich klarer.
„Frau Feldmann, können Sie das Haargummi beschreiben? Oder uns ein Bild schicken?“

Johanna zitterte leicht.
„Ich hab kein Smartphone. Aber Sie können kommen. Bitte. Ich bin heute daheim.“


Zwei Stunden später stand ein ziviles Polizeiauto vor dem Haus.
Ein Mann Mitte vierzig, kantiges Gesicht, Anorak mit Kaffee-Fleck. Und eine Frau, jung, kurze Haare, neugierige Augen.

Johanna ließ sie rein, bot Kaffee an. Zeigte den Gegenstand.
Die junge Beamtin nahm ihn mit Handschuhen an sich, betrachtete ihn lange.

„Die Beschreibung passt. Wir müssen es überprüfen lassen. Wissen Sie, woher der Hund es hat?“

Johanna schüttelte den Kopf.
„Er kommt und geht. Ich weiß nicht, wohin.“

„Seit wann ist er bei Ihnen?“

„Etwas mehr als drei Wochen.“

„Und der Welpe?“

„Vor fünf Tagen gebracht. Auch von ihm.“

Die Polizisten sahen sich kurz an.


Sie fragten, ob sie Mika mitnehmen dürften.
Johanna verneinte.
Nicht entschieden. Aber fest.

„Er ist kein Verdächtiger. Er ist… Zeuge. Und er braucht mich.“

Der Beamte lächelte schmal.

„Vielleicht braucht auch jemand ihn.“


Nach dem Gespräch war Johanna erschöpft.
Sie machte sich Kamillentee, setzte sich in den Garten. Mika lag neben ihr.
Die Sonne schien mild.
Aber ihr Herz klopfte hart in der Brust.

In ihren Gedanken vermischten sich Bilder: Friedrich mit dem alten Rasenmäher. Das kleine Enkelkind, das nie zu Besuch kam. Und jetzt ein vermisstes Mädchen mit einem Haargummi, das in ihrer Küche lag.


Am Nachmittag kam Besuch.
Frau Reimers. Natürlich.

„Ich habe die Polizei gesehen. Alles in Ordnung bei Ihnen?“

Johanna nickte. „Sie haben nach etwas gefragt.“

„Wegen dem Hund, oder? Ich hab doch gleich gesagt, dass mit dem was nicht stimmt. Der schleicht ja auch nachts durchs Dorf!“

Johanna blieb ruhig.
„Er hat einen Welpen gebracht. Er hat geholfen.“

Frau Reimers schnaubte.
„Man kann nie wissen. Die Tiere heutzutage sind auch nicht mehr wie früher.“

„Die Menschen auch nicht“, sagte Johanna.


In der Nacht träumte sie von einem Bach.
Mika stand im Wasser. Neben ihm: ein kleines Mädchen mit Zöpfen.
Sie lachte.
Aber das Wasser stieg.
Und dann war alles dunkel.


Am nächsten Morgen war Mika nicht da.

Wieder einmal.
Aber diesmal… war auch das Haargummi weg.

Johanna suchte in der Küche, im Flur, im Korb. Nichts. Sie war sicher, sie hatte es nicht angerührt.
Nur Mika war allein im Haus gewesen.

Oder?

Sie setzte sich auf die Bank vor der Haustür. Fleck lag zu ihren Füßen.
Der Himmel war wolkenlos, doch in ihr war Sturm.


Am Nachmittag kam ein Anruf.
Die Beamtin von gestern.

„Frau Feldmann… wir haben das Haargummi der Mutter gezeigt. Sie ist sich sicher: es gehört ihrer Tochter.“

Pause.
„Gibt es neue Hinweise von Ihrer Seite? Hat der Hund…?“

Johanna schluckte.
„Er ist weg. Heute Morgen war er nicht hier.“

„Wir melden uns, wenn wir etwas hören.“


In derselben Nacht hörte sie ein Bellen.

Nicht nah.
Nicht direkt am Haus. Sondern aus dem Wald.
Langgezogen.
Dreimal.

Dann Stille.

Sie zog ihre alte Jacke über, nahm die Taschenlampe. Fleck winselte, aber blieb zurück, wie auf Kommando.

Johanna ging den Feldweg hinab. Der Mond stand hoch. Ihre Schritte waren vorsichtig, das Herz klopfte bis in den Hals.

Und dann ein Rascheln im Gebüsch.

Sie hielt den Atem an.
Leuchtete.
Und sah:

Mika.

Sein Fell war voller Dreck. Er blutete leicht an der Flanke.
Und zu seinen Füßen:

Ein kleiner, pinkfarbener Rucksack.


Johanna trat näher. Ihre Hand zitterte.
Mika trat zur Seite.
Aus dem Rucksack fiel ein kleiner Stoffbär.
Und ein zerknitterter Zettel.
In Kinderhandschrift stand dort nur:
„Ich hab Angst. Bitte hol mich.“

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