🐾 Teil 5: Die Spur im Wald
(Litzendorf, Nacht vom 21. auf den 22. Mai 2024)
Der Zettel in Johannas Hand war feucht, die Buchstaben verschmiert, doch lesbar:
„Ich hab Angst. Bitte hol mich.“
Sie stand da, mitten auf dem Waldweg, der Atem flach, das Herz ein aufgeregter Vogel in der Brust. Mika saß neben ihr, ruhig, wachsam, als hätte er diesen Ort schon lange gekannt. Der Rucksack mit dem kleinen Stoffbären lag zu seinen Füßen.
„Zeig mir, wo du warst“, flüsterte Johanna.
Mika richtete sich auf, langsam, als würde er spüren, dass jeder Schritt nun Bedeutung hatte. Er drehte sich um, trottete den Weg entlang, nicht zu schnell als würde er darauf achten, dass sie folgen konnte.
Der Wald war dunkel, obwohl der Mond zwischen den Ästen durchbrach. Der Boden war feucht, mit Wurzeln übersät. Johanna stützte sich schwer auf ihren Stock. Jeder Schritt knirschte.
Sie fragte sich, ob sie verrückt war.
Eine alte Frau, mitten in der Nacht, einem Hund folgend, wegen eines Haargummis und eines Kinderrucksacks.
Aber tief in ihr war dieses Gefühl.
Dass es kein Zufall war.
Dass Mika etwas wusste. Oder besser: etwas suchte.
Nach etwa zwanzig Minuten blieb Mika stehen.
Er schnupperte, drehte sich im Kreis, dann verschwand er hinter einem dichten Strauch.
Johanna schob die Zweige zur Seite.
Dahinter:
Ein kleiner Trampelpfad, kaum sichtbar, überwachsen.
Und am Ende eine alte, verfallene Jagdhütte. Das Dach halb eingestürzt, die Fenster vernagelt.
„Hier?“, flüsterte sie.
Mika bellte leise. Dann setzte er sich.
Johanna trat näher. Ihre Finger zitterten, als sie die Taschenlampe auf die Hütte richtete. Die Tür war schief, lehnte nur noch lose im Rahmen.
Sie klopfte.
Nichts.
Noch einmal, lauter.
Dann ein Geräusch.
Ein Rascheln.
Ein leises Wimmern.
„Hallo? Ist da jemand? Ich heiße Johanna… ich bin hier, um zu helfen.“
Stille.
Dann – eine Kinderstimme.
Zart, brüchig, kaum hörbar:
„Wo ist der Hund?“
Johanna keuchte. Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Er ist hier. Mika ist da. Er hat dich gefunden.“
Ein langer Moment.
Dann knarrte etwas. Die Tür bewegte sich leicht. Ein Spalt öffnete sich.
Ein Gesicht. Blass. Dreckig. Große, verängstigte Augen.
Ein Mädchen. Vielleicht drei, vier Jahre alt.
Emma.
Johanna ging in die Knie. So gut sie konnte.
„Alles ist gut, Kindchen. Ich bin da. Du bist nicht mehr allein.“
Emma zögerte.
Dann ein Schritt.
Zögerlich. Dann zwei.
Sie stürzte sich nicht in Johannas Arme. Aber sie kam näher.
Und Mika? Der setzte sich langsam neben das Mädchen. Sie legte eine kleine Hand auf seinen Kopf.
„Er war da“, flüsterte sie.
„Als der Mann gegangen ist. Ich hab gewartet… Mika war da.“
Johanna spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen.
Sie zog ihr altes Wolltuch aus der Tasche, wickelte es vorsichtig um das Kind.
„Komm. Wir gehen nach Hause.“
Emma nickte. Kein Widerstand.
Johanna nahm sie an die Hand. Die Kleine zitterte nicht nur vor Kälte.
Mika lief voran. Wie ein Pfadfinder. Wie einer, der wusste, wie man Menschen zurückholt.
Der Rückweg war lang.
Aber Johanna fühlte keinen Schmerz.
Nicht im Knie. Nicht im Rücken.
Sie spürte nur: Leben.
Es war fast drei Uhr morgens, als sie das Haus erreichten.
Emma schlief auf dem Sofa ein, eingerollt wie ein Kätzchen.
Mika legte sich davor. Fleck winselte leise, neugierig, aber ruhig.
Johanna saß daneben, ein Glas Wasser in der Hand, die andere auf Emmas Stirn.
Sie wachte noch zwei Stunden.
Dann endlich rief sie die Polizei an.
Die Reaktion war überwältigend.
Noch vor Sonnenaufgang stand ein Streifenwagen vor der Tür. Die junge Beamtin stieg aus, die vom Tag zuvor. Tränen in den Augen, als sie Emma sah.
„Sie lebt. Mein Gott. Sie lebt…!“
Johanna trat zur Seite.
„Mika hat sie gefunden. Nicht ich.“
Wenig später kam ein Krankenwagen. Sanitäter untersuchten Emma, wickelten sie in warme Decken.
Ein Arzt fragte Johanna nach Einzelheiten. Sie erzählte – vom Haargummi, vom Rucksack, von der Hütte.
„Und wie haben Sie sie gefunden?“
„Ich bin nur gefolgt. Mika hat sie geholt.“
Der Arzt blickte auf den Hund.
„Ein guter Hund. Ein Held.“
Als Emma in den Wagen gehoben wurde, wachte sie kurz auf.
Sie sah Johanna an. Dann Mika.
„Kommst du mit?“, fragte sie leise.
Johanna kniete sich neben sie.
„Ich bleibe hier, Schatz. Aber Mika… Mika passt immer auf.“
Emma nickte. Dann schlief sie wieder ein.
Als das Auto losfuhr, setzte sich Mika an den Straßenrand. Schaute ihm nach, lange. Dann drehte er sich zu Johanna.
Und winselte.
Ganz leise.
Fast traurig.
Johanna streichelte ihm über den Kopf.
„Du hast getan, was niemand sonst konnte.“
Mika hob den Blick und zum ersten Mal wedelte er mit dem Schwanz.
Doch in seinen Augen war noch etwas Ungesagtes.