🐾 Teil 6: Mika war schon einmal dort
(Litzendorf, 22. Mai 2024 – Nachmittag)
Der Garten war still.
Nur der Wind raschelte durch das Gras, und irgendwo in der Ferne klopfte ein Specht gegen einen alten Stamm.
Johanna saß auf der Bank unter der Eberesche. Ihre Hände lagen ruhig im Schoß. Vor ihr döste Mika. Nicht schlafend – nein, eher lauernd ruhig, wie jemand, der sich nicht mehr erklären muss, aber noch immer aufpasst.
Seit Emma fort war, hatte das Haus wieder seine gewohnte Stille angenommen. Und doch war nichts mehr wie zuvor.
Johanna hatte in der Nacht kaum geschlafen. Zu viele Gedanken. Zu viele Bilder.
Vor allem eines:
Die Art, wie Mika zur Hütte zurückgeblickt hatte.
Nicht wie einer, der etwas Neues entdeckt hatte.
Sondern wie jemand, der zurückkehrte.
Am Nachmittag kam der Postbote.
Ein junger Mann, neu im Ort. Er brachte ein Paket aus München – von Johanna Tochter.
„Ich habe die Geschichte mit dem Hund gelesen!“, rief er fröhlich.
„Ganz Bamberg spricht davon. Die Leute sagen, das Tier hat ein Wunder vollbracht.“
Johanna lächelte müde.
„Vielleicht hat es das.“
Als der junge Mann ging, blieb Johanna mit dem Karton auf dem Schoß sitzen. Sie öffnete ihn nicht sofort. Stattdessen drehte sie sich zu Mika.
„Du warst schon einmal dort, stimmt’s?“
Mika hob leicht den Kopf.
Dann senkte er ihn wieder auf die Pfoten.
Sie öffnete den Karton.
Darin ein Fotoalbum. Neu zusammengestellt von ihrer Tochter – „für die Tage, an denen die Erinnerung schwerfällt“, stand auf einem kleinen Zettel.
Johanna blätterte.
Fotos aus den Achtzigern, die Kinder noch klein. Friedrich mit Sonnenbrille, Johanna im Strohhut. Camping, Geburtstage, Sommerabende auf der Terrasse.
Dann eine Aufnahme, die sie erst überblättern wollte.
Ein fremder Junge. Etwa zwölf Jahre alt. Dunkle Haare, schüchternes Lächeln. Neben ihm: ein Hund. Groß. Hellgraues Fell. Deutlich jünger als Mika, aber… ähnlich.
Sie stutzte.
Wendete das Foto. Auf der Rückseite, in Friedrichs Handschrift:
„1989 – Leon und Lupo. Ferien in Stadelhofen.“
Leon?
Der Junge vom Nachbarsdorf?
Der, der Jahre später verschwunden war?
Johanna erinnerte sich vage. Ein schüchternes Kind. Verbrachte ein paar Wochen im Sommer bei Verwandten in der Nähe. Verschwunden im Herbst 1996. Kein Abschiedsbrief. Keine Spur. Nur das Gerücht, er sei in den Wald gegangen und nie zurückgekehrt.
Sie legte das Foto auf den Tisch.
Mika lag da. Die Augen halb geschlossen.
„Lupo… war das dein Vater? Dein Bruder?“
Keine Antwort natürlich.
Aber Johanna spürte, wie etwas in ihr klickte.
Wie ein alter Schlüssel, der plötzlich wieder passt.
Am Abend wagte sie etwas, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte.
Sie nahm Friedrichs alten Aktenordner aus dem Keller.
Darin: Zeitungsausschnitte, Briefe, handgeschriebene Listen. Friedrich war ein Sammler von allem, was „nicht in die Zeitung passt“. Manchmal nannte er sich selbst den „Detektiv der vergessenen Geschichten“.
Zwischen alten Artikeln über Schützenfeste und Flurbereinigungen fand sie einen Bericht aus dem Jahr 1997:
„Spur im Wald endet im Nichts – Fall Leon S. weiterhin ungelöst.“
Die Polizei geht weiterhin Hinweisen zum Verbleib des Jugendlichen Leon S. nach, der im Oktober des Vorjahres bei einer Wanderung im Bereich des Höllbachtals verschwand. Suchaktionen mit Hunden und Helikoptern blieben erfolglos. Auffällig: Ein Nachbar hatte berichtet, ein großer grauer Hund sei tagelang im Wald gesehen worden…
Ein Foto war beigefügt – unscharf. Aber Johanna erstarrte.
Der Hund auf dem Bild… war fast identisch mit Mika.
Sie legte den Artikel auf den Tisch, holte leise ein paar Scheiben Wurst aus dem Kühlschrank. Legte sie vor Mika.
„Das warst du nicht, Mika. Ich weiß das.“
Er schnupperte, fraß aber nicht. Nur ein leises, fast unhörbares Winseln kam aus seiner Kehle.
In der Nacht träumte Johanna von Friedrich.
Er stand an der Waldhütte. Die Tür halb offen. In der Hand: ein Foto.
„Nicht alles, was verloren ging, blieb unentdeckt“, sagte er.
Dann drehte er sich um und war weg.
Am Morgen ging Johanna zum Dorfarchiv.
Sie war dort seit Jahren nicht mehr gewesen. Aber sie kannte die Leiterin, Frau Schenk, noch von früher.
„Ich suche etwas über den Jungen, Leon S.“, sagte Johanna.
„Und über Hunde.“
Frau Schenk runzelte die Stirn.
„Ein alter Fall… aber es gab Gerede. Manche sagten, er sei mit einem Hund weggelaufen. Andere: der Hund sei zurückgekommen. Wochenlang. Immer wieder an dieselbe Stelle.“
„Welche Stelle?“, fragte Johanna leise.
„Eine Lichtung hinter der alten Jagdhütte. Kaum jemand geht da noch hin.“
Am Nachmittag machte sie sich auf den Weg.
Mit Mika.
Diesmal führte sie den Weg.
Und Mika folgte. Nicht zögerlich. Sondern wie jemand, der lange gewartet hatte, endlich zurückzukehren.
Sie fanden die Lichtung.
Sie war fast zugewachsen.
Aber in der Mitte: ein kleiner Hügel.
Kein Grab. Kein Stein.
Nur eine Stelle, an der das Gras anders wuchs.
Mika setzte sich davor. Legte den Kopf zur Seite.
Johanna kniete sich nieder. Berührte die Erde.
Warm.
Als sie sich erhob, lag etwas zwischen den Halmen.
Ein altes, rostiges Medaillon.
Sie öffnete es vorsichtig, drinnen:
ein verblasstes Foto.
Ein Junge mit Hund.
Und darunter, eingeritzt:
„Ich war nie allein.“