Die Bank im Regen | Ein alter Hund, eine Bank im Regen und das Geheimnis, das niemand vergessen konnte

🐾 Teil 7: Die Wahrheit im Medaillon

(Litzendorf, 23. Mai 2024 – früher Abend)

Die Finger zitterten, als Johanna das rostige Medaillon aufklappte.
Es war alt, vielleicht aus Messing, mit kleinen Einkerbungen am Rand.
Drinnen ein verblichenes Foto, kaum größer als eine Münze. Ein Junge – etwa zwölf Jahre alt – mit einem Hund an seiner Seite. Beide lächeln, in der Art, wie man lacht, wenn der Moment wichtig ist. Darunter, kaum lesbar:

„Ich war nie allein.“

Johanna ließ die Worte auf sich wirken.
Sie erinnerte sich: An Sommer 1989.
An diesen Jungen, Leon.
Und an das fremde Gefühl, dass er immer zuhörte – aber nie sprach, wenn man ihn fragte, woher er kam.


Mika saß noch immer neben dem Erdhügel, ruhig, als hätte er genau gewusst, was sie finden würde.
Johanna schaute ihn an.

„Du warst da, stimmt’s? Damals. Vielleicht nicht du selbst, aber… jemand wie du.“

Der Hund legte den Kopf leicht zur Seite. Nicht als Antwort, sondern als Spiegel.


Am nächsten Morgen saß Johanna in ihrer Küche, das Medaillon in der einen, den Fotoabzug aus dem Paket ihrer Tochter in der anderen Hand.

Zwei Gesichter –
einmal Leon mit Lupo.
Und jetzt das Mädchen Emma, die Mika nie vergessen würde.

Zwei Leben.
Zwei Kinder.
Und ein Hund, der nie aufhörte, sie zu suchen.


Kurz vor zehn Uhr kam ein Anruf.
Wieder die junge Polizistin – sie nannte sich nun mit Vornamen: Lara.

„Frau Feldmann, Emma hat nach dem Hund gefragt. Nach Mika. Sie sagt, er war schon da, bevor sie ihn zum ersten Mal gesehen hat.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie meint… sie habe ihn geträumt. Mehrmals. Und in einem Traum habe er mit einem Jungen gesprochen. In einem Baumhaus.“

Johanna schwieg.

„Ich weiß, das klingt absurd“, sagte Lara schnell.

„Nein“, flüsterte Johanna. „Gar nicht.“


An diesem Nachmittag ging Johanna zum Dachboden.

Seit Friedrichs Tod war sie nie wieder oben gewesen.
Staub. Holzbalken. Spinnweben.
Und in der hintersten Ecke – eine alte Holztruhe. Mit dem Namen „F.W.“ eingebrannt. Friedrich Wilhelm.

Sie öffnete sie.

Obenauf: Briefe. Dann: Zeitungsausschnitte.
Und darunter ein Skizzenbuch. Handschriftlich. Friedrichs Notizen.
Zeichnungen eines Hundes. Immer wieder dieselbe Form: groß, kräftig, buschiger Schwanz.

Mika. Oder Lupo. Oder beide.


Zwischen den Seiten fiel ein Zettel heraus.
Mit Datum: 3. November 1996.
Friedrichs Handschrift.

„Ich war heute wieder im Wald. Der Hund war da. Er hat mich zu der Hütte geführt. Aber niemand sonst. Kein Junge. Kein Ruf. Nur Stille. Der Hund hat gewartet. Dann ist er gegangen. Ich bin ihm gefolgt. Ich glaube, er wollte mir etwas zeigen – aber ich war zu langsam. Vielleicht bin ich zu alt. Vielleicht bin ich nicht der Richtige.“

Johanna las den Satz fünfmal.
Dann hielt sie den Zettel an die Brust.

„Du hast es versucht, Friedrich“, flüsterte sie. „Du hast ihn nicht vergessen.“


Sie ging nach unten.
Setzte sich neben Mika.

„Er hat dich gesehen, weißt du das? Mein Friedrich. Vielleicht hat er sogar versucht, dich zu retten. Oder Leon. Oder beide.“

Mika zuckte leicht mit den Ohren. Dann legte er seinen Kopf auf ihren Schoß.
Etwas in ihm vibrierte. Kein Knurren. Kein Bellen.
Sondern ein tiefer, leiser Laut. Wie Erinnerung.


Am Abend klingelte es.

Vor der Tür stand eine Frau. Etwa Mitte fünfzig. Braunes Haar, festes Kinn, unsicherer Blick.

„Sind Sie Frau Feldmann?“, fragte sie.

„Ja.“

„Mein Name ist Margit Schäfer. Ich war Leons Tante. Damals… als er verschwand. Ich habe gehört, Sie hätten etwas gefunden.“

Johanna bat sie herein.
Sie setzten sich.
Zwei Tassen Kamillentee dampften zwischen ihnen.

Margit hielt das Medaillon in der Hand. Ihre Finger zitterten.

„Das war seins. Ich hab es ihm zum Geburtstag geschenkt. 1988.“

Sie weinte nicht. Nur ihre Stimme wurde leiser.

„Wir haben ihn nie gefunden. Und irgendwann… hat niemand mehr gesucht.“

Johanna nickte.

„Aber jemand hat nicht aufgehört zu warten.“


Sie zeigte ihr das Foto von Mika.
Und dann das unscharfe Bild aus dem Zeitungsartikel von 1997.

Margit starrte es an. Lange.

„Ich weiß, das klingt verrückt“, flüsterte sie.
„Aber das ist er. Nicht genau derselbe. Aber irgendwie… doch.“


Als sie ging, sagte sie nur einen Satz:

„Vielleicht hat Leon ihn geschickt. Für das nächste Kind.“


In der Nacht stand Johanna wieder auf.
Sie konnte nicht schlafen.

Sie ging hinaus auf die Terrasse.
Mika saß bereits dort. Der Blick in die Ferne.
Zum Wald.
Zur Hütte.
Zur Erinnerung.

„Du trägst mehr, als ein Tier tragen sollte“, sagte sie leise.

Mika schaute sie an. Kein Winseln. Kein Laut.

Aber in seinem Blick lag das Echo von vielen Jahren.


Als sie sich umdrehen wollte, stand Fleck plötzlich neben Mika.
Der kleine Hund blickte in dieselbe Richtung.
Und dann heulte er.
Zum ersten Mal.
Lang.
Klar.
Wie ein Ruf nach jemandem, den er nie gekannt hatte.

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