Die Bank im Regen | Ein alter Hund, eine Bank im Regen und das Geheimnis, das niemand vergessen konnte

🐾 Teil 8: Der Ruf in der Nacht

(Litzendorf, 24. Mai 2024 – nach Mitternacht)

Der Klang war klar.
Fleck, der junge Hund, stand aufrecht auf der Terrasse. Die Schnauze erhoben, die Augen weit geöffnet. Sein Heulen war kein Wimmern, kein zufälliger Laut. Es war ein Ruf.

Langgezogen.
Fast menschlich.

Mika saß daneben.
Stumm.
Doch seine Muskeln waren gespannt.
Als wüsste er, was dieser Klang bedeutete – und was er auslösen würde.


Johanna trat in ihren Hausschuhen nach draußen.
Der Boden war kühl, der Himmel voller Sterne.

„Was ist mit dir, Kleiner?“, fragte sie leise. „Was hast du gespürt?“

Fleck sah sie kurz an. Dann lief er ein paar Schritte Richtung Gartenzaun, blieb stehen und blickte zurück.

Ein Blick, der sagte: Folge mir. Jetzt.


Sie zögerte keine Sekunde.

Sie zog sich den alten Mantel über, nahm die Taschenlampe vom Haken, rief nur leise „Mika, komm“ – aber Mika war schon da. Neben ihr. Bereit. Wie früher. Wie immer.

Fleck lief voran. Seine kleinen Pfoten fast lautlos im feuchten Gras.

Sie gingen nicht Richtung Wald. Nicht zur Hütte.
Sondern zurück.
Ins Dorf.
Durch die schmale Gasse zwischen den alten Fachwerkhäusern, vorbei an der Kirche, wo die Glocke bald eins schlagen würde.


Vor dem Gemeindehaus blieben sie stehen.

Fleck kratzte an der Tür. Mika schnüffelte am Briefkasten.

Johanna trat näher.

Und dann hörte sie es.

Weinen.
Gedämpft. Kaum hörbar.
Aber eindeutig.
Ein Kind.


Sie klopfte.
Nichts.
Dann nochmal – fester.

Eine Bewegung am Fenster im ersten Stock.
Ein Licht ging an.
Kurze Zeit später öffnete sich die Tür. Ein Mann im Schlafanzug, mit zerzausten Haaren.

„Was soll das denn um diese Uhrzeit?“

Johanna trat zur Seite.
„Ich glaube, da ist ein Kind. Drinnen. Allein. Und es weint.“

Der Mann blinzelte, dann stutzte er.

„Meine Frau ist mit unserer Tochter übers Wochenende weg. Ich bin allein hier.“

„Sicher?“

Er runzelte die Stirn.
Dann sah er Fleck der weiter an der Tür schnupperte.
Und Mika, der sich nun zur Kellertür bewegte.

Plötzlich wurde der Mann bleich.

„Der Keller… ich hab gestern… das Fenster offen gelassen wegen dem Farbeimer…“


Sie gingen hinunter.
Der Schlüssel klemmte.
Dann öffnete sich die Tür.

Und dort zwischen Kartons und Farbtöpfen saß ein Mädchen.
Etwa fünf Jahre alt. Zitternd. Die Augen groß, tränenverschmiert.

„Lisa!“, rief der Mann. „Was… was machst du denn hier?“

Das Kind fiel ihm in die Arme.
„Ich hab mich versteckt… weil du so geschrien hast beim Telefonieren. Und dann warst du weg. Und ich hatte Angst.“


Johanna trat einen Schritt zurück.
Fleck saß still.
Sein Heulen war ein Echo gewesen. Auf diese Angst. Auf dieses Kind.


Sie gingen zurück.
Schweigend.
Bis zum Haus.

Im Vorgarten blieben sie stehen. Johanna streichelte beide Hunde.
Dann schaute sie in die Nacht.

„Das war nicht Zufall“, flüsterte sie.


Am nächsten Tag war das ganze Dorf voll vom Vorabend.

„Schon wieder der Hund“, sagte Frau Reimers. „Er findet Kinder, als hätte er eine Karte im Kopf.“

Doch Johanna hörte nicht mehr auf das Gerede.

Sie hörte auf Fleck.

Denn nun war es nicht mehr nur Mika, der in die Ferne sah.
Sondern auch der Kleine.


In den Tagen danach veränderte sich etwas.

Mika zog sich öfter zurück. Lag unter dem Fliederbusch. Blick ruhig, aber abwesend.

Fleck dagegen wurde lebhafter. Schnupperte an alten Bäumen, kratzte an Erde, als suche er etwas.

Und eines Abends geschah es:

Fleck brachte einen Gegenstand aus dem Garten.
Ein alter Ball. Eingewickelt in Stoff.

Johanna erkannte das Muster.

Ein altes Halstuch.
Friedrichs.


Sie nahm es in die Hand.
Verstaubt. Feucht.
Aber noch da. Noch mit Geruch.

„Wo hast du das gefunden?“, flüsterte sie.

Fleck rannte zum Apfelbaum.
Kratze an der Wurzel.
Und begann zu graben.


Johanna setzte sich neben ihn.

Nach einigen Minuten stießen sie auf ein Stück Holz.
Ein Brett. Klein. Rechteckig.

Sie zog es heraus.
Darauf – eingeritzt:

„Wenn ich gehe, bleibt etwas zurück.“

Darunter: F.W. – Friedrich Wilhelm.


Sie lachte. Und weinte.
Fleck setzte sich neben sie. Mika stand im Hintergrund, in den Schatten.

„Er hat dir etwas hinterlassen“, sagte Johanna.
„Oder euch beiden. Vielleicht wusste er… dass ihr euch finden würdet.“


Die Nacht war mild. Der Himmel klar.

Und plötzlich bellte Mika.
Kurz. Scharf.

Dann sah Johanna es.

Ein Licht im Wald.

Flackernd.
Weiß.
Wie eine Laterne.
Aber ohne Träger.


Fleck hob den Kopf.
Mika stand auf, ganz ruhig.
Beide blickten zum Waldrand.
Dann gleichzeitig liefen sie los.
Und Johanna wusste:
Diesmal musste sie mit.
Denn dort wartete nicht nur die Vergangenheit.
Sondern eine letzte Antwort.

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