🐾 Teil 9: Das Licht zwischen den Bäumen
(Litzendorf, 25. Mai 2024 – Mitternacht)
Das Licht war nicht grell.
Nicht künstlich.
Es flackerte leise, als wäre es von innen entzündet, kein Scheinwerfer, keine Taschenlampe.
Es pulsierte wie ein Herzschlag im Nebel.
Mika stand am Waldrand, den Kopf erhoben, ruhig.
Fleck neben ihm, zitternd vor Spannung, aber still.
Johanna trat langsam hinter sie.
„Was ist das…?“, flüsterte sie, mehr zu sich selbst.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie es längst:
Dies war kein Zufall.
Sie betraten den Wald.
Die Luft war kühl, moosig, voller Blätterrauschen.
Fleck lief vorneweg, fast tänzelnd, wie von einer inneren Kraft geleitet.
Mika folgte, langsamer.
Sein Gang war bedächtig, fast würdevoll – als ginge er nicht in einen Wald, sondern in eine Erinnerung.
Nach wenigen Minuten öffnete sich der Pfad zu einer alten Lichtung.
Und dort mitten im Gras stand eine alte Laterne.
Nicht elektrisch.
Eisen.
Mit rußgeschwärztem Glas.
Und darin: eine Flamme.
Lebendig.
Johanna blieb stehen.
Ihr Herz raste.
„Diese Laterne… ich kenne sie. Die stand früher in Friedrichs Werkstatt. Er hatte sie von seinem Vater.“
Sie ging langsam näher.
Niemand war zu sehen. Kein Mensch. Kein Laut.
Nur das Knistern der kleinen Flamme.
Neben der Laterne lag etwas im Gras.
Ein Umschlag.
Alt. Vergilbt.
Und vorne, mit Bleistift geschrieben:
„Für dich wenn du es verstehst.“
Johanna hob ihn auf.
Drinnen: ein Brief. Handschriftlich.
In Friedrichs Schrift.
Sie setzte sich auf den umgestürzten Baumstamm.
Mika legte sich zu ihren Füßen.
Fleck schnupperte an der Laterne – dann legte auch er sich hin.
Johanna begann zu lesen.
Liebste Hanne,
Wenn du diesen Brief liest, dann hat dich einer von ihnen geführt oder beide.
Ich weiß nicht, wann du ihn findest. Aber ich weiß, dass du kommen wirst.Du hast mich oft gefragt, warum ich nachts in den Wald ging. Warum ich allein spazierte, warum ich mit alten Karten arbeitete.
Die Antwort ist einfach: Ich habe gesucht.
Gesucht nach dem Jungen, den keiner mehr suchte.
Gesucht nach dem Hund, der immer wieder auftauchte – in alten Geschichten, alten Fotos, alten Träumen.Ich glaube, dass es Seelen gibt, die bleiben.
Nicht als Geist. Sondern als… Wächter.Und ich glaube, Mika ist einer von ihnen.
Oder Lupo. Oder beide.Ich weiß nur: Er hat mich geführt. Damals, als ich fast aufgegeben hätte.
Und vielleicht führt er auch dich.Wenn ja, dann vertrau ihm.
Denn am Ende führen sie nicht zu sich selbst.
Sondern zu uns.
Dein Friedrich.
Johanna faltete den Brief langsam zusammen.
Ihre Hände zitterten.
Aber ihre Augen – trocken. Klar.
„Du hast mir nie davon erzählt“, flüsterte sie. „Weil du wusstest, dass ich es erst verstehen kann, wenn die Zeit reif ist.“
Sie blickte zu Mika.
„Und du… hast all die Jahre gewartet. Auf mich. Auf ihn. Auf das richtige Kind.“
Mika blinzelte.
Dann legte er seine Schnauze auf ihren Schuh.
Die Flamme in der Laterne flackerte.
Ein Windhauch strich über die Lichtung.
Und plötzlich wie aus dem Nichts stand ein Reh am Waldrand.
Nicht scheu. Nicht flüchtig.
Es blickte Johanna direkt an.
Dann neigte es den Kopf und verschwand.
Mika stand auf.
Sah ihm nicht nach.
Sondern blickte nach oben.
Johanna folgte seinem Blick.
Zwischen den Bäumen öffnete sich ein Fenster aus Licht.
Der Mond stand hoch.
Und in seinem Schein sah sie etwas, das ihr den Atem raubte:
Fleck mit erhobener Schnauze heulte.
Nicht aus Angst. Nicht aus Schmerz.
Sondern als würde er antworten.
Einem Ruf, den nur er verstand.
Und dann, ganz leise fiel ein einzelnes Blatt von der Eiche.
Mitten auf die Laterne.
Die Flamme flackerte.
Und ging nicht aus.
Sondern wurde heller.
Johanna stand auf.
Sie fühlte kein Alter in ihren Knochen.
Nur Gewissheit.
„Wir gehen jetzt heim“, sagte sie leise.
„Und wenn es Zeit ist, weißt du den Weg.“
Mika drehte sich um.
Fleck lief voraus.
Als sie das Haus erreichten, ging die Sonne gerade auf.
Vögel sangen.
Die Welt roch nach Erde und Licht.
Johanna setzte sich auf die Bank vor dem Haus.
Fleck legte sich zu ihren Füßen.
Mika neben sie.
Sie schloss die Augen.
Spürte das Herz schlagen.
Und dann erinnerte sie sich an etwas, das Friedrich ihr einmal gesagt hatte:
„Manche Hunde sind nicht nur Hunde.
Sie sind Brücken.
Zwischen dem, was war und dem, was bleibt.“
Johanna öffnete langsam die Augen.
Im Fenster spiegelte sich das Licht des Morgens.
Doch auf der Scheibe war ein Pfotenabdruck.
Frisch.
Feucht.
Aber keiner von Mika.
Und keiner von Fleck.
Ein dritter.
Größer.
Und verschwunden, als sie sich umdrehte.