Die Bank im Regen | Ein alter Hund, eine Bank im Regen und das Geheimnis, das niemand vergessen konnte

🐾 Teil 10: Wo sie bleiben

(Litzendorf, 26. Mai 2024 – Sonnenaufgang)

Der Abdruck war da klar gezeichnet, feucht, nicht größer als eine Männerhand.
Eine Pfote.
Nicht von Mika. Nicht von Fleck.
Und doch so vertraut, dass Johanna lächeln musste.

Sie streckte die Hand aus, fuhr mit den Fingern über das Glas.
Der Abdruck löste sich auf.
Wie Nebel im Licht.


„Du warst hier“, sagte sie leise.
Nicht als Frage. Als Gewissheit.

Friedrich.
Oder Lupo.
Oder der Teil von ihnen, der nie gegangen war.


Fleck schnarchte leise an ihrer Seite, die Pfoten zuckten im Traum.
Mika saß am Wegrand, den Blick zum Apfelbaum gerichtet.

Er hatte dort die meiste Zeit verbracht, in den letzten Tagen.
Still. Beobachtend.
Wie ein alter Wächter, der wusste, dass seine Arbeit bald getan war.


Im Dorf sprachen sie weiter über die Hunde.
Die Zeitung hatte geschrieben:
„Hund rettet erneut Kind – Wer ist der stille Held von Litzendorf?“

Johanna hatte nichts dazu gesagt.
Auch der Reporter, der vor dem Gartenzaun stand, bekam keine Antwort.

„Er gehört sich selbst“, sagte sie nur.
„Und er bleibt, solange er gebraucht wird.“


Am 28. Mai kam Lara – die Polizistin.

Sie brachte ein Foto mit: Emma, auf dem Arm ihrer Mutter, ein Lächeln, das in den Augen blieb.

„Sie fragt jeden Tag nach Mika“, sagte Lara.

Johanna nickte.
„Vielleicht bringt sie ihm irgendwann einen Brief.“

„Oder einen kleinen Hund“, sagte Lara und lachte. „Fleck wäre bereit.“


Als Lara ging, setzte sich Johanna auf die Bank.
Fleck folgte ihr wie ein Schatten.
Mika aber blieb beim Baum.

Seine Augen waren ruhiger geworden.
Tiefer.
Nicht traurig.
Nur still.


In der Nacht regnete es zum ersten Mal seit Wochen.

Leise Tropfen. Kein Gewitter.
Ein warmer, weicher Regen.

Johanna stand am Fenster.
Mika saß im Garten, ließ sich durchnässen.
Bewegte sich nicht.
Er blickte in den Himmel.
Und wartete.


Am nächsten Morgen war die Bank leer.

Fleck lag im Flur. Wach.
Aber Mika war weg.

Johanna rief nicht.
Sie suchte nicht.

Sie ging langsam zum Apfelbaum.
Der Regen hatte eine kleine Kuhle im Boden gebildet.

Und dort auf dem nassen Gras lag der alte Medaillonanhänger.
Geöffnet.
Leer.


Sie kniete sich hin.
Ihre Knie schmerzten.
Aber das Herz ruhig.

Sie hob den Anhänger auf.
Legte ihn in die Tasche.
Dann streichelte sie das feuchte Moos.

„Danke“, flüsterte sie. „Für alles.“


Mika kehrte nicht zurück.

Nicht am Abend.
Nicht in der Woche darauf.

Fleck schlief nun immer auf der Terrasse.
Manchmal bellte er leise in den Schlaf hinein.
Manchmal scharrte er an der Erde nicht wild, sondern vorsichtig.
Wie einer, der erinnert.


Am 4. Juni kam ein Brief.
Handgeschrieben. Keine Absenderadresse.
Nur:
„An Frau Johanna Feldmann mit Dank“

Drin:
Ein Kinderbild.
Ein Mädchen mit einem braunen Welpen im Arm.
Hinten stand:

„Ich glaube, er hat einen Teil von Mika in sich.
Aber den anderen hat er bei Ihnen gelassen.“
Emma.


Johanna weinte.
Nicht traurig.
Nicht erschüttert.

Sondern so, wie man weint, wenn man begreift, dass Liebe nicht endet.
Sondern wandert.


An einem Abend im Juni nahm sie das alte Album zur Hand.

Sie blätterte durch das Leben.
Fand das Bild von Friedrich mit dem jungen Lupo.
Dann von Leon.
Dann Emma.
Dann… Fleck.

Sie klebte ein neues Bild dazu.

Fleck, unter dem Apfelbaum.
Dazu schrieb sie:

„Wo sie bleiben, bleiben sie bei uns.“


Ein neuer Morgen.

Johanna gießt den Garten.
Fleck läuft zwischen den Beeten, jagt keine Schmetterlinge, aber begleitet sie wie ein Schatten mit Herzschlag.

Sie bleibt stehen.

Am Zaun eine Frau mit einem kleinen Mädchen.
Emma.

Sie winkt.
Hält einen Zettel hoch.
„Für Mika“, ruft sie.

Johanna öffnet das Tor.
Nimmt den Brief entgegen.
Legt ihn in eine kleine Holzdose.
Stellt sie unter den Apfelbaum.

Fleck setzt sich daneben.
Hebt die Schnauze.
Horcht.

Und ganz kurz, wirklich nur kurz, rauscht ein Windstoß durch die Äste.

Ein Blatt fällt.
Landet sanft auf der Dose.

Johanna lächelt.
Setzt sich auf die Bank.

„Guten Morgen, Mika“, flüstert sie.
„Du bist pünktlich wie immer.“

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