🐾 Teil 4: Stimmen im Dorf
Die Schublade stand nun in meinem Zimmer, direkt unter dem Fensterbrett.
Wenn ich nachts wach lag, sah ich ihr dunkles Holz im schwachen Licht der Straßenlaterne.
Es war, als wäre ein Stück Vergangenheit direkt bei mir eingezogen.
Meine Mutter bemerkte sie am nächsten Morgen.
Sie fragte nicht, woher ich sie hatte, doch ihre Stirn legte sich in Falten.
Sie strich mit der Hand über den Deckel, zögerte und drehte sich dann wortlos um.
Ich wusste, dass sie mehr wusste, als sie sagte.
Doch ich spürte auch, dass die Fragen sie schmerzten.
Also schwieg ich und ging nach der Schule wieder zur Brücke.
Silex wartete.
Er sah müde aus, die Schritte schwerer als sonst, doch sein Blick war noch immer scharf.
Als er mich erblickte, wedelte er nicht, aber er kam näher und blieb dicht bei mir.
Der Nebel hing tief über der Thyra.
Das Wasser schimmerte grau, als trüge es Geheimnisse, die nicht ans Licht wollten.
Ich setzte mich auf den Steinrand, legte meine Hände ins feuchte Moos und lauschte.
Da hörte ich Stimmen, nicht aus der Luft, sondern aus dem Weg.
Zwei Männer kamen vom Dorf her, sie redeten gedämpft, als hätten sie Angst, die Stille zu verletzen.
Als sie mich sahen, verstummten sie, doch ich erkannte, dass sie etwas wussten.
Der ältere von beiden, ein Mann mit eingefallenen Wangen, sah mich lange an.
Das ist der Hund, sagte er schließlich.
Seine Stimme war rau, als habe sie den Staub vieler Jahre geschluckt.
Ich nickte.
Er hieß Otto Drechsler, das wusste ich, weil er oft in der Bäckerei einkaufte.
Der andere war jünger, vielleicht Mitte sechzig, mit breiten Schultern und müden Augen.
Sie blieben neben mir stehen.
Otto starrte auf Silex, als wäre er ein Gespenst.
Dann sagte er leise, der Hund war schon damals da.
Sein Begleiter räusperte sich.
Manche Dinge sollte man ruhen lassen, murmelte er, doch ich hörte das Zittern in seiner Stimme.
Silex hob den Kopf, als erkenne er sie beide.
Ich fragte, was in jener Nacht passiert sei.
Otto blickte ins Wasser, als suche er dort eine Antwort.
Wir waren mit in der Schicht, sagte er nach einer langen Pause.
Es war ein Abend wie viele, nur dass der Nebel dichter war als sonst.
Gernot arbeitete an den Loren, ich an der Rampe.
Er lachte sogar noch, bevor er aufbrach.
Dann wurde er still.
Er ging früher, sagte, er müsse nach Hause.
Doch er kam nie an.
Die Worte fielen schwer, als wären sie aus Stein.
Ich spürte, dass er nicht alles sagte.
Sein Blick wich mir aus, und seine Hände verkrampften sich.
Der jüngere Mann trat einen Schritt zurück.
Wir haben nichts gesehen, sagte er scharf.
Es war einfach ein Unfall.
Doch Otto schüttelte den Kopf.
Er wollte mehr sagen, ich sah es in seinen Augen, doch er schwieg.
Die Luft zwischen uns wurde schwer, wie vor einem Gewitter.
Dann legte Silex seine Schnauze auf Ottos Knie.
Der alte Mann zuckte zusammen, als wäre er von einer Erinnerung getroffen.
Er flüsterte, er hat etwas gewusst, was er nicht hätte wissen dürfen.
Ich fröstelte.
Die Worte hallten nach, auch wenn sie leise gesprochen waren.
Der jüngere Mann packte Otto am Arm und zog ihn fort.
Ich blieb zurück mit Silex.
Der Nebel wurde dichter, und das Wasser rauschte dumpf.
Ich wusste, dass ich gerade nur ein Bruchstück gehört hatte.
Später erzählte ich meiner Mutter, was passiert war.
Sie schwieg lange, dann setzte sie sich an den Küchentisch.
Sie sagte, dass ihr Vater damals im Dorfvorstand war, und dass er nach Gernots Tod viele Nächte nicht schlafen konnte.
Man redete nicht darüber, weil es einfacher war, den Mund zu halten.
Doch die Schuld blieb.
Und manche sagten, der Hund wache, weil einer die Wahrheit bewahren müsse.
Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen.
Die Schublade stand neben meinem Bett, und ich glaubte, ein leises Kratzen zu hören, als würde jemand versuchen, etwas aus ihr zu befreien.
Als ich das Fenster öffnete, hörte ich die Thyra rauschen, obwohl sie weit unten floss.
Silex kam in meinen Traum.
Er stand auf der Brücke, doch diesmal war er nicht allein.
Neben ihm sah ich einen Mann mit dunklen Augen, der mich ansah, als wollte er mir etwas geben.
Als ich erwachte, pochte mein Herz, und meine Hände waren feucht vom Schweiß.
Ich wusste, dass ich weiterfragen musste.
Denn nun hatte ich mehr als nur einen Namen.
Der Hund, das Dorf, die Brücke – alles führte zurück zu jener Nacht.
Und ich ahnte, dass der nächste Schritt tiefer in den Schatten führen würde, als ich es ertragen konnte.
Morgen werde ich wissen, ob das Dorf bereit ist, seine eigenen Wunden zu öffnen.