Die Brücke bei Nacht | Die stille Treue eines Hundes führte zu einer Wahrheit, die ein ganzes Dorf jahrzehntelang verschwieg

🐾 Teil 6: Das Schweigen der Alten

Der Ordner lag unter meinem Bett, verborgen zwischen alten Decken.
Ich wusste, dass er dort nicht sicher war, doch ich konnte ihn nicht mehr aus den Händen geben.
Die Seiten brannten wie Glut, auch wenn sie nach Staub rochen.

Am nächsten Morgen begegnete ich Otto Drechsler auf der Straße.
Er sah mich an, blieb stehen und senkte dann den Blick.
Sein Gang war langsamer als sonst, als trüge er eine Last, die nicht sichtbar war.

Ich fragte ihn, ob er Gernots Brief gekannt habe.
Er zuckte zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen.
Dann schüttelte er den Kopf, aber sein Schweigen verriet mehr als Worte.

Du solltest dich da nicht hineinziehen lassen, sagte er schließlich.
Es bringt nur Unglück.
Ich sah, wie seine Hände zitterten, als er den Mantel fester zog.

Doch ich konnte nicht zurück.
Die Wahrheit war in mir wie ein Stein im Schuh, der jede Bewegung schmerzte.
Ich musste weitergehen, auch wenn der Weg dunkler wurde.

Am Abend suchte ich Irmgard auf.
Ihr Haus lag am Rand des Dorfes, klein, mit einem Dach, das sich tief zur Erde neigte.
Sie öffnete die Tür, als hätte sie schon gewusst, dass ich kommen würde.

Wir saßen in ihrer Stube, die nach Holz und alten Äpfeln roch.
Die Wände waren mit verblassten Bildern behangen, Gesichter von Menschen, die längst gegangen waren.
Silex legte sich vor den Ofen, als sei er hier zuhause.

Ich legte den Ordner auf den Tisch.
Irmgard berührte ihn nicht, sondern sah nur auf das Leder, als traue sie sich nicht, die Seiten erneut zu öffnen.
Nach einer Weile sagte sie leise, dieser Ordner hat meinen Vater krank gemacht.

Sie erzählte, dass ihr Vater, der im Dorfvorstand war, damals Akten aus dem Werk bekommen hatte.
Er las die Berichte, sah die Widersprüche und verstummte danach für Jahre.
Er sprach nicht mehr über das Werk, nicht über Gernot, nicht über die Brücke.

Manchmal, sagte Irmgard, saß er nachts am Fenster und starrte hinaus.
Wenn man ihn ansprach, reagierte er nicht.
Als ob er in einem anderen Raum war, den keiner betreten durfte.

Ich spürte, wie das Schweigen der Alten wie ein Netz über dem Dorf lag.
Ein Netz, das jeden hielt, der zu viel wissen wollte.
Und Silex war der einzige, der nicht schwieg.

Irmgard sah mich an, ihre Augen glitzerten feucht im Schein der Lampe.
Du bist jung, sagte sie, vielleicht kannst du fragen, was wir nicht mehr fragen konnten.
Aber sei vorsichtig, die, die damals schwiegen, sind nicht alle tot.

Ihre Worte schnitten in mich.
Ich dachte an den jüngeren Mann, der Otto am Arm weggezogen hatte.
Sein Blick war nicht der eines Fremden, sondern der eines Bewahrers.

Später, auf dem Heimweg, begleitete mich Silex bis zur Brücke.
Er ging langsam, jeder Schritt ein Echo vergangener Jahre.
Als wir die Mitte der Brücke erreichten, blieb er stehen.

Der Bach floss schwarz unter uns, das Wasser roch nach Erde.
Silex hob den Kopf, und in der Ferne bellte ein Hund, einsam und langgezogen.
Es klang wie ein Ruf aus einer anderen Zeit.

Ich setzte mich auf das Geländer, die Füße baumelten über dem Wasser.
Der Wind war kalt, doch in mir brannte etwas.
Ich flüsterte Gernots Namen in die Dunkelheit, und das Echo legte sich über die Felder.

Da hörte ich ein Geräusch hinter mir.
Schritte, langsam, schwer.
Ich drehte mich um, doch niemand war zu sehen.

Silex stellte die Ohren auf, sein Blick war wachsam.
Er knurrte nicht, doch er blieb angespannt, als spüre er etwas, das ich nicht sah.
Dann beruhigte er sich, legte den Kopf wieder auf meine Hand.

Vielleicht war es nur der Wind, der in den Bäumen spielte.
Vielleicht war es mehr.
Ich wusste es nicht.

Doch in dieser Nacht träumte ich von Gernot.
Er stand am anderen Ufer, in seiner Arbeitskleidung, den Helm in der Hand.
Er sah mich an, aber seine Lippen bewegten sich nicht.

Ich wachte mit Herzklopfen auf.
Der Traum war so klar gewesen, dass ich den Geruch von Kohle noch in der Nase hatte.
Die Morgendämmerung schob sich bleich durch das Fenster, und ich wusste, dass die Schatten näher rückten.

Das Dorf schwieg.
Doch ich war mir sicher, dass nicht alle Türen für immer verschlossen blieben.
Und irgendwo in diesem Schweigen lag die Wahrheit, die Silex bewachte.

Morgen werde ich tiefer suchen, auch wenn ich dabei etwas finde, das mich zerbrechen könnte.

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